Wenn einer eine Reise tut, dann kann er was erleben. Oder verpassen, je nach Standpunkt. Der 61-jährige US-amerikanische Musikforscher Louis Sarno brach vor 30 Jahren in den Regenwald des Kongobeckens auf – und kam nicht mehr zurück.
Auf der Suche nach dem archaischen Gesang der Bayaka-Pygmäen ging das Zeitgeschehen mitunter spurlos an ihm vorbei: Das Ende der Sowjetunion beispielsweise erfuhr Sarno erst Monate später.
Vermisst hat der Amerikaner trotzdem nichts. Im Regenwald fand Sarno nach einer gescheiterten Ehe eine Gemeinschaft, die den 1.90 Meter grossen Mann aufnahm. Dunkel könne seine Haut zwar nicht mehr werden, sagt ein Bayaka in Michael Oberts Dokumentarfilm über Sarnos, aber was solle man machen: Er gehöre jetzt einfach dazu.
Verklärtes Aussteigertum
Sarno nahm nicht nur die Gesänge und die Musik der Bayaka auf; er lernte auch ihre Sprache, zog ein Adoptivkind gross und wurde selbst Vater im Dschungel. Darüber hat er zu Beginn der 1990er-Jahre ein Buch geschrieben, das denselben Titel trägt wie die Doku, die nun im Kino zu sehen ist: «Song From the Forest».
Im Buch schilderte Sarno sein Aussteigerleben allzu rosig, auch auf Druck des Verlags hin. Davon ist im Dokumentarfilm nicht mehr viel zu spüren. Zwar gerät der Musikforscher noch immer ins Schwärmen, wenn er von seinem Privileg erzählt: dem totalen Eintauchen in die Kultur der Bayaka. Doch das Paradies ist längst nicht so idyllisch, wie Sarno einst geglaubt hatte: Die Stammesmitglieder borgen sich beim Amerikaner regelmässig Geld – natürlich ohne allzu grosse Zahlungsmoral. Zudem ruinierte sich Sarno im Dschungel die Gesundheit und ein Stück weit auch den eigenen Idealismus.
Reise zum Nabel der Welt
Die 98-minütige Dokumentation zeigt, wie Sarno den Wald für eine Reise verlässt. Er hat seinem 13-jährigen Sohn Samedi versprochen, ihm die Welt zu zeigen, oder zumindest deren Nabel: die amerikanische Metropole New York. So brechen die zwei also gemeinsam in die Neue Welt auf, die für Sarno eine alte ist.
Dort erwarten den Amerikaner sein materialistisch veranlagter Bruder, eine esoterisch veranlagte Ex-Ehefrau – und ein berühmter Freund aus College-Tagen: Mit Independent-Regisseur Jim Jarmusch teilt Sarno die Liebe zur Musik und den Drang nach Unabhängigkeit. Angeblich soll der Musikforscher seinen Jugendfreund zum psychedelischen Anti-Western «Dead Man» und zum Zeitlupen-Actionfilm «Ghost Dog» inspiriert haben.
Allerdings ist der Besuch in New York für Sarno viel traumatischer als für seinen Sohn: Während den Rückkehrer Geldsorgen plagen und ihm das Leben in der Grossstadt künstlich und sinnlos scheint, steckt Samedi den materiellen Überfluss und die Flut an Sinneseindrücken verblüffend unbeeindruckt weg.
Ein altes Lied
Die Dokumentation «Song From the Forest» ist so widersprüchlich und faszinierend wie ihre Hauptfigur: Sarno hat ein Leben lang versucht, die Tradition einer Kultur zu bewahren, deren Überlebensstrategie im Wandel liegt. Er hat erfahren, dass nicht einmal der Regenwald der Bayaka wirklich unberührt ist und trauert doch einer verklärten Naturverbundenheit nach. Was der Dokumentarfilm mit Sarno entdeckt, ist tatsächlich ein altes Lied: Es ist der vertraute Zivilisations-Blues der Entwurzelung, der zu uns aus den Wäldern Afrikas dringt.
Sendung: Kultur aktuell, 17.6.15, 17.20 Uhr
«Song From the Forest» startet am 18. Juni in den Deutschschweizer Kinos.