Die Kung-Fu-Ikone Ip Man ist nicht nur in China ein Begriff. Er war ein Grossmeister des Wing Chun, einer Richtung der Kampfkunst, die auch in Europa sehr beliebt ist. Allein in der Schweiz gibt es über 40 Schulen. Und vor allem war Ip Man der Mentor einer weiteren Kampfsportlegende: Bruce Lee.
Der Meister selbst durchlebte eine turbulente Zeit: Ip Man war in der Kaiserzeit geboren und sah die Entstehung einer Republik. Er überlebte die japanische Besatzung nur knapp und emigrierte in die damals britische Kronkolonie Hongkong.
Schon zu Lebzeiten eine Legende
Es überrascht nicht, dass die Geschichte von Ip Man schon mehrmals verfilmt wurde. Mit der immer gleichen letzten Szene, die beschreibt wie der alte Meister dem jungen Bruce Lee begegnet. Das gehört einfach dazu, das ist bereits Tradition.
Auch Wong Kar Wai (oder Kar Wai Wong, denn Wong ist sein Familienname) kann sich diesem ungeschriebenen Ip-Man-Verfilmungsgesetz nicht entziehen. Er lässt seinen Hauptdarsteller Tony Leung am Schluss von «The Grandmaster» aufschauen und aufhorchen, als der junge Bruce Lee seine Schule betritt. Das ist übrigens kein Spoiler, sondern ein Hinweis für alle Nichtkenner. Für Kung-Fu-Fans ist die Sache sowieso klar.
Der Kampf als Poesie für Helden
Doch genug zum Schluss, der Anfang ist entscheidend. «The Grandmaster» beginnt mit einem fulminanten Prolog, einer Szene, die bezeichnend ist für den ganzen Film: Ip Man sieht sich in einem Hinterhof einer Meute von Kämpfern gegenüber. Es giesst in Strömen, es ist Nacht, und es ist dunkel. Vom Strohhut des Meisters prallen die schweren Regentropfen ab.
Dann explodiert der Kampf in ein perfekt choreographiertes Ballett: Die Fäuste fliegen, die Füsse wirbeln – und die Angreifer? Die fallen. Einer nach dem anderen. Am Schluss steht nur noch Ip Man da. Alle sind sie an ihm abgeprallt wie die Tropfen auf seinem Hut.
Und so will es auch Wong, der Regisseur. An seinem Ip Man prallt alles ab, er durchlebt politische Umwälzung und Verrat, Verlust und Trauer wie einer, der dafür geschaffen ist. Und das ist – so seltsam es klingen mag – das Schöne an diesem Film. Ip Man ist Wongs Konstante. Um ihn herum herrschen Machtkämpfe und Intrigen. Um ihn herum wirbelt der Sturm. Doch Ip Man bleibt ein edler Mensch, ein wahrer Held. Das tönt arg pathetisch, doch auch hier verbeugt sich der Regisseur vor der Legende, und es passt.
Ein unvollständiges Epos
Es heisst, Wongs ursprüngliche Version des Filmes sei vier Stunden lang gewesen. Dann wurde die Schere gezückt und es entstand eine zweistündige Kinofassung. Das merkt man. Ein paar Nebengeschichten führen nirgendwo hin. Manche – sehr wichtige – Nebenfiguren tauchen nur sporadisch auf und lassen einen etwas ratlosen Zuschauer zurück. Der Film wirkt fragmentarisch, nicht vollständig. Das ist schade, ist doch gerade die Geschichte des modernen Kung-Fu und seiner Meister eine Geschichte, die man gerne voll und ganz begreifen würde.
Wongs Bildsprache jedoch ist atemberaubend schön. Nahaufnahmen, Zeitlupen, Licht und Schatten – dieser Regisseur scheint seine Filme auf Öl zu malen, bevor er sie auf Zelluloid bannt. Jede Einstellung ein Gemälde, vor dem man gerne lange verweilen würde.
Einen Film wie «The Grandmaster» muss man sich erarbeiten, vielleicht vor dem Kinobesuch ein bisschen recherchieren. Tut man das, kann man zurücklehnen und sich voll und ganz von den Bildern und der Stimmung tragen lassen.