Ein dumpfer Knall, gefolgt von einem gewaltigen Rauschen. Das Geräusch von Lawinenkanonen ist allgegenwärtig im mondänen Ski-Resort in den französischen Alpen. Die Knallerei löst morgens und abends kleine kontrollierte Lawinen aus, damit die Skitouristen tagsüber die Pisten in Sicherheit benutzen können.
Das gleiche Ereignis, völlig unterschiedlich wahrgenommen
Das schwedische Ehepaar Tomas und Ebba sitzt mit seinen Kindern auf der Hotelterrasse beim Mittagessen, als es wieder knallt und die Schneemassen am gegenüberliegenden Hang ins Rutschen kommen. Aber dieses Mal scheint es nicht so kontrolliert abzulaufen wie sonst. Die Lawine rast auf der Terassenseite den Hang hoch, aus der Faszination wird bei den Menschen an den Tischen blanke Panik.
Als sich der Schneestaub gelegt hat, beruhigen sich die panischen Skitouristen wieder. Beim Après-Ski-Bier erzählen Tomas und Ebba einem befreundeten Paar von den Schrecksekunden am Mittag. Allerdings haben Tomas und Ebba offensichtlich nicht das Gleiche erlebt. «Es war kontrolliert wie üblich…», sagt Tomas. «Er geriet dermassen in Panik, dass er uns sitzen liess und vom Tisch weggerannt ist», erzählt dagegen seine Frau.
Meist ertrinken Frauen und Kinder
Nach dieser Szene ist nichts mehr wie vorher. Tomas will nichts von feigem Davonrennen wissen. Seine Frau dagegen besteht auf ihrer Version. Bald stehen nicht nur Ehe und Familie zur Diskussion, der Streit eskaliert im Freundes- und Bekanntenkreis.
Der schwedische Regisseur Ruben Östlund ging für seinen raffinierten Thriller von statistischen Daten aus, die ihn fasziniert haben. Der grösste Teil der Überlebenden bei Schiffsunglücken seien Männer in einem bestimmten Alter, sagt er. Und die, die ertrinken, sind Frauen und Kinder. Das habe nicht nur mit den physischen Fähigkeiten zu tun, sondern auch mit dem männlichen Überlebensinstinkt.
Die Pseudo-Bewältigung der Paare
So seien es – dem Ruf «Frauen und Kinder zuerst» zum Trotz – am ehesten die Männer, die sich rechtzeitig in Sicherheit bringen, sagt Östlund. Und ebenso seien Scheidungen unter Opfern von Flugzeugentführungen statistisch gesehen sehr hoch, weil man in solchen Extremsituationen die Partner eben ganz neu kennenlerne.
Mit seinem extrem spannenden Film macht es Ruben weder sich selber noch seinen Protagonisten leicht. Denn er spielt nicht nur die Krise anhand mehrerer Paare durch, sondern auch ihre Pseudo-Bewältigung. Am Ende sind es die Frauen, welche die Fiktion der Beschützerrolle ihrer Männer wieder etablieren, um überhaupt gemeinsam weiter leben zu können.
Thriller und Parodie zugleich
Gedreht wurde im Studio, in einer Hotelkulisse irgendwo zwischen Ikea und dem Overlook-Hotel aus Kubricks «The Shining». Daneben auch in einem tatsächlichen französischen High-Tech-Hochalpen-Resort für Gutbetuchte.
Die nachvollziehbar alltäglichen Menschen in dieser manchmal atemberaubend unwirklichen Umgebung geben der Geschichte einen zusätzlichen Reiz. Und Östlund verstärkt das mit einem starken, manchmal furchterregenden Sounddesign und dem kontrapunktisch-leitmotivischen Einsatz des «Sommer» aus Vivaldis «Die vier Jahreszeiten».
«Turist» ist ein packendes Partnerseminar in Thrillerform – und zugleich die zynische Parodie darauf. Und mit einer Zigarette am Ende schafft es Ruben Östlund gar, der ganzen verfahrenen Situation eine tröstliche Pointe abzugewinnen.