Sie haben Ulrich Seidl zwei Jahre lang mit der Kamera begleitet. Er hat Ihnen tiefe Einblicke in seine Regiearbeit gewährt. Wie konnten Sie sein Vertrauen gewinnen?
Constantin Wulff: Er hat zugestimmt, weil wir uns schon sehr lange kennen, seit Mitte der 1980er-Jahre. Ich habe in Wien an der Filmakademie studiert und ihn dort kennengelernt. Als Filmkritiker habe ich seine ersten Arbeiten begleitet. Später war ich als Feedbackgeber mit ihm im Schnittraum. Seidl kennt auch meine Filme, er wusste, auf was er sich einlässt.
Haben Sie während des Drehs neue Erkenntnisse über Seidls Arbeitsweise gewonnen?
Es war eine aufregende Zeit für mich. Er macht Filme, die sehr stark aus dem Leben herauskommen. Er bebildert nicht einfach ein vorausgedachtes Drehbuch. Seidl arbeitet mit dem, was gerade entsteht, und das ist jeden Tag ein neues Abenteuer. Er lässt sich auf Situationen voll ein. Das war auch sehr inspirierend für meine eigene Arbeit. Er hat ein unglaubliches Sensorium, kann ohne Berührungsängste auf alle möglichen Menschen eingehen.
Können Sie das etwas näher ausführen?
Als ich Seidl bei den Dreharbeiten von «Im Keller» zu einem Jäger begleitete, war ich überrascht, wie er aus dem gegebenen Setting überwältigende Bilder schaffte. Ich war ja auch dort und fand, dass es nicht so toll aussah. Als ich aber miterlebte, wie er seine Kompositionen fand, wie er Dinge sah, die mir so nicht aufgefallen sind, diese zurechtrückt, eine neue gestaltete Wirklichkeit schafft, war ich überwältigt. Ich sah das Bild, das Tableau, welches da entstand und war fasziniert.
Diese Tableaux mit ihren totalen, langen Einstellungen mit Menschen, die direkt in die Kamera schauen, sind Seidls Markenzeichen. Diese Ästhetik hat er «Im Keller» besonders weit getrieben.
Ja das stimmt, aber ich habe immer gedacht, das sind spektakulärere Orte. Es gibt keinen anderen Film von Seidl mit so vielen Tableaux wie «Im Keller». Seidl kann banale Orte verdichten, in eine Form des Realismus, die weit über das blosse Abbilden hinausgeht und die uns so etwas wie eine tiefere Wahrheit näher bringt.
Seidls Filme sind extrem gestaltet. Etwas «Gemachteres» als ein Tableau gibt es nicht. Das realisiert er mit Laien, die sehr authentisch in ihren eigenen Räumen agieren. Seine Filme spielen mit diesem Wechselspiel «Fiktion» und «Wirklichkeit». Das berührt und provoziert uns.
Was ist Seidl für ein Mensch? Er wird ja manchmal als Poet des Trostlosen oder als billiger Sozialpornograf bezeichnet?
Er ist ein stiller, nachdenklicher Mensch. Kein Provokateur. Er ist immer sehr nahe bei seinen Protagonisten und kennt keine Berührungsängste. Das Medium Film hilft ihm, eine künstlerische Position darzustellen. Er versteht Kunst im Sinne der Verunsicherung des Publikums und nicht der Bevormundung. Er will mit hoher kreativer Leidenschaft die Wirklichkeit abbilden.
Sie sind Schweizer, leben seit 30 Jahren in Wien. Gedeihen solche Kellerfilme in Österreich besonders gut? Ich denke dabei an die jüngere, wenig aufgearbeitete Nazi-Vergangenheit, die schrecklichen Kellertragödien mit Natascha Kampusch, die während Jahren im Keller versteckt war oder Fritzl, der mit seiner Tochter im Keller sieben Kinder zeugte?
Nein, ich denke, das könnte überall sein. Es mag etwas spezifisch Österreichisches haben. Aber: Gute Filmer schauen sehr genau hin, gehen über das Regionale hinaus und machen ihre Themen universell. Seidls Keller sind in Österreich daheim, verkörpern aber universelle Wahrheiten. Abgründe gibt es überall auf der Welt.