Die Geschichte um Vivian Maier ist fast zu unglaublich, um wahr zu sein. Ein unscheinbares Kindermädchen entpuppt sich als begnadete Strassenfotografin. Mit ihren Schützlingen im Schlepptau und der Rolleiflex-Kamera um den Hals streiften sie durch die Strassen von Chicago und New York. Dabei entstanden, überwiegend in den 50er und 60er Jahren, mehr als 100'000 Foto-Negative und viele 8- und 16-mm-Filme. Doch all diese genialen Strassenfotografien blieben zeit ihres Lebens unentdeckt.
Das Unglaubliche an der Geschichte: Vivian Maier trug selbst dazu bei. Niemand durfte ihre Bilder sehen. Kein einziges Foto wurde veröffentlicht. Dafür sorgte sie auch, in dem sie einen Grossteil der Negative erst gar nicht entwickeln liess. Doch im Jahr 2007 wollte es der Zufall, dass eine Kiste mit ihren Foto-Negativen in die Hände des Hobby-Historikers John Maloof fiel. Tragisch: Als er sich dem Wert seines Fundes bewusst wurde und daraufhin Vivian Maier ausfindig machen wollte, fand er nur noch heraus, dass die Künstlerin kurz zuvor verstorben war.
Der Glückspilz und sein Jahrhundertfund
Für den Dokumentarfilm «Finding Vivian Maier» tat sich John Maloof mit dem Filmemacher Charlie Siskel zusammen. Gemeinsam dokumentieren die beiden Regisseure, die Geschichte vom Fund der Fotografien und was dieser auslöste. Denn eigentlich war John Maloof nur auf der Suche nach ein paar alten Fotos für sein Stadtbuch. Bei einer Auktion ersteigerte er für 380 Dollar die Kiste, die sein Leben verändern sollte.
Maloof hatte keine Ahnung von Fotografie, doch erkannte er, dass diese Bilder einzigartig waren. Er veröffentlichte sie auf seinem Online-Blog und Vivian Maier wurde über Nacht berühmt. In überragenden Bildkompositionen hielt sie den Strassen-Alltag unserer Eltern und Grosseltern für die Ewigkeit fest. Sie machte aus kleinen, flüchtigen Gesten, magische Momentaufnahmen. Doch wer war die Person hinter der Kunst? Und warum diese Geheimnistuerei?
Das Kindermädchen mit der dunklen Seite
Der Dokumentarfilm ist eine filmische Spurensuche. Ein Mosaik aus sich gleichenden und völlig gegensätzlichen Erzählungen. Nicht mal die Menschen, mit denen Vivian Maier am meisten zu tun hatte, kannten sie wirklich. Sie war unverheiratet und kinderlos. Freiheitsliebend und doch sehr verschlossen. So beschreiben sie ehemalige Arbeitgeber und ihre Zöglinge.
Sie schaffte es, dass nicht mal ihre beste Freundin nach zehn Jahren Freundschaft genau sagen konnte, wer sie war und woher sie kam. In ihren Bildern erkennt man die Schönheit des sozialen Miteinanders, aber auch die Schattenseiten des Lebens.
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Randgestalten der Gesellschaft gehörten ebenso zu ihren Hauptmotiven wie glückliche Kindergesichter. Wie als ob sich ihre zwiespältige Persönlichkeit in den Fotografien widerspiegelte. Denn die kinderliebende Nanny hatte auch eine dunkle Seite, die sie vor Gewaltanwendungen nicht zurückschrecken liess.
Irre Künstlerin, oder Genie?
«Finding Vivian Maier» ist ein spannender Dokumentarfilm, der in interessanten Etappen das Geheimnis um eine exzentrische wie introvertierte Frau zu lüften versucht. Doch was Vivian Maier ausser ihren Fotografien noch zu verbergen hatte, das kann nicht mal der Film beantworten.
John Maloof und Charlie Siskel zeigen, dass auch bei Vivian Maier Genie und Wahnsinn eng zusammenliegen. Dabei überlassen sie es dem Zuschauer, ob man sich schliesslich für das Bild der irren Künstlerin entscheidet, oder ob man sich von ihren berührenden Momentaufnahmen faszinieren lässt. Egal wie, Vivian Maier wird ein Rätsel bleiben, gleichzeitig hinterlässt sie ein wertvolles Erbe für die Kulturgeschichte.