«More north, more north, me first, me first…» So charakterisiert die junge Inuit-Frau Allaka (Rinko Kikuchi) den abwesenden Polar-Forscher Robert Peary gegenüber seiner Frau Josephine. Josephine Peary (Juliette Binoche) ist ihrem Mann nach Grönland nachgereist. Sie will dabei sein, oder zumindest in der Nähe, wenn er endlich den Nordpol findet.
Gegen alle Warnungen
Juliette Binoche gibt die vermögende Society-Dame aus New York als wild entschlossene Liebende, als weibliches Gegenstück zu den vom Abenteuerkino romantisch verklärten britischen Expeditionisten, die mit Geschirrkoffer und Grammophon in die Wildnis aufbrechen. Josephine schlägt alle Warnungen in den Wind, auch jene des erfahrenen Bram (Gabriel Byrne) und besteht darauf, mit Hundegespannen und Inuit-Führern sofort von Ellesmere nach Norden zu Peary Basislager weiter zu reisen.
Die ersten 40 Minuten des Films schwelgen geniesserisch im mehr oder weniger komischen Kontrasten. Die Lady schiesst einen Eisbären und freut sich diebisch: «Take that, Park Avenue.» Dass der Inuit-Begleiter ein wenig verlegen erklärt, das sei zwar schon ein Männchen, das sie da geschossen habe. Aber ein ganz kleines, verwirrtes, verirrtes, das überhört Josephine.
Am Abend vor dem Aufbruch lädt Josephine die Herren zum Diner mit Wein und überhört einmal mehr alle Warnungen – die wohl auch darum nicht allzu deutlich ausfallen, weil es offensichtlich sie ist, wer die Expeditionen, auch jene ihres Mannes, finanziert.
Reich, arrogant und entschlossen
Josephine ist eine faszinierende Figur. Nicht nur, weil Juliette Binoche ihre Mischung aus Entschlossenheit, Naivität und Arroganz mit viel Energie auflädt. Sondern auch, weil man mitunter das Gefühl bekommt, es sei gerade die Arroganz der entschlossenen Reichen, welche es erst möglich macht, sich über alle Gefahren und auch über den Verlust anderer Leben hinweg zu setzen. Etwas, was die klassische Geschichtsschreibung evoziert – und im Kontext dieses Films durchaus subtil auch stehen bleibt.
Nach einer Stunde mit grossartigen Aufnahmen im Eis, im Schnee und mit einer Lawine, welche ein ganzes Hundegespann verschüttet, hat Josephines Entschlossenheit sie zur Basis-Baracke ihres Mannes geführt. Der ist allerdings nicht dort, nur ein halb erfrorener, kranker Teilnehmer seiner Expedition, den er zurückgelassen hat. Und eine junge Inuit-Frau.
Mit dieser Allaka bleibt Josephine in der Hütte, um auf ihren Mann zu warten. Wohl wissend, dass das wider jede Vernunft sein dürfte, weil der Winter in wenigen Tagen einbrechen wird und ein Überleben aussichtslos scheint.
Von der Angst, verlassen zu werden
Und damit beginnt die theatralisch-metaphorische zweite Stunde des Films. Rinko Kikuchi und Juliette Binoche spielen im nun folgenden Kammerdrama buchstäblich um das Leben ihrer Figuren. Allaka ist neugierig, offen und bereit für eine Freundschaft. Josephine abweisend, distanziert und schliesslich zumindest vorübergehend offen feindselig, als ihr aufgeht, warum Allaka mit ihr auf Robert Peary zu warten gewillt ist.
Dreht sich die erste Filmhälfte um die leistungsbereite Arroganz der Habenden, wird doch auch da schon klar, dass Josephine den Siegeswillen ihres Mannes zwar internalisiert hat – aber auch und vor allem aus Notwendigkeit. In all den Jahren ihrer Ehe ist er nur ein paar Monate zuhause geblieben und Josephines unausgesprochene Angst ist, dass er gar nicht mehr zurückkehren könnte, sollte er sein Ziel je erreichen.
Theatralisch und stark metaphorisch
In der zweiten Filmhälfte lässt Isabel Coixet nun dieses leistungsorientierte Weltbild auf das der jungen Inuk treffen, für die es nur die Gemeinschaft aller Menschen zu geben scheint – und die mit ihrem Geliebten.
Dass die Szenen mit den beiden Frauen, zwischen Hütte und Iglu, Naturvolk und Zivilisation, Leidenschaft und Trotz etwas theatralisch wirken, liegt nicht nur am semi-realistischen Filmstil von Isabel Coixet, sondern auch daran, dass einem ähnliche Szenen aus Frankenstein-Bühnen-Inszenierungen oder aus Filmen wie Chaplins «The Gold Rush» in Erinnerung gerufen werden.
Und manchmal ist es Coixets schierer Mut zur fetten Metaphorik, die einen ungläubig staunen (und lachen) lässt. Etwa dann, wenn Allaka im Iglu ihr Kind gebärt und Josephine zeitgleich nach aussen durch die Decke des Iglus bricht, weil der Eingang zugefroren ist.
Keine Suche nach Realismus
«Nobody Wants The Night» ist für den internationalen Markt gemacht, das zeigen grosse Details wie der Einsatz des Englischen als Hauptsprache und Inuktitut als exotischem Backdrop. Aber auch kleine Details wie zum Beispiel jene Szene, in der zwei Inuit-Männer nebeneinander stehend in den Schnee pinkeln und dann aus dem Bild gehen, bloss um eine unversaute weisse Fläche zurückzulassen. Ob das dem Studio-Setting geschuldet ist (darauf lässt auch die Abwesenheit jeglicher Atemdämpfe schliessen) oder der verkäuflichen Ästhetik, ist allerdings unerheblich. Isabel Coixet sucht nicht Realismus, sondern das, was die Menschen aus der Realität machen können. Für sich oder für andere.