Nein, von einem Rückzug ins Private könne nicht die Rede sein, meint Nicolas Humbert. «Wild Plants» dreht sich nicht um Schrebergärten und Rasenmäher, im Gegenteil: Es geht in diesem Film um Wildwuchs, um die Ursprünglichkeit, um die eigenen Wurzeln und jene der anderen.
Explosive Samenmischung
Da ist zum Beispiel der Zürcher «Samenbomber» Maurice Maggi. Der Mann hat eine hohe Kunst gemacht aus dem heimlichen Auswildern von Pflanzen.
Er sortiert am Küchentisch verschiedene Samen nach Wachstumshöhen der Pflanzen, mischt Malven-Samen mit Kürbis-Kernen und bringt das Ganze bei Nacht und Nebel aus in die urbanen Brachen, unter die Bäume zwischen Parkplätzen, hinter dem Abfallkübel, auf dem Grünstreifen neben den Tramgeleisen.
Humbert folgt dem Mann diskret mit der Kamera, die Bilder erinnern an städtische Nachtszenen früherer Schweizer Filme, an «Reisender Krieger», an Edward Hopper «Nighthawks»-Gemälde.
Und dann, eine Filmlänge später, explodieren Maggis wilde Stadtgärtchen. Da stehen meterhohe Malven, da wächst Gemüse, wo man sonst nur Abfall findet und einzelne Robi-Dog-Säckchen.
Kollektive und Küchenphilosophie
Maurice Maggi ist der Einzeltäter in «Wild Plants». Die übrigen Protagonisten bilden Anbau-Kollektive. Etwa die Genfer Genossenschaft «Jardins de Cocagne», die regionales Gemüse für regionale Kunden anbaut, der US-Ureinwohner und Polit-Aktivist Milo Yellowhair oder auch eine junge Frau, die den Tod ihrer Mutter mit Hilfe der Pflanzen verarbeitet.
Sie erzählt, wie sie den Wachstums-Zyklus der Pflanzen vom Aussäen und Wurzeln schlagen übers Blühen und Früchte tragen bis zum Zerfallen und Kompostieren für die nächste Generation als tröstliches Lebensbild zu deuten gelernt hat.
Das klingt ein wenig nach Küchenphilosophie. Aber gerade daraus macht Nicolas Humbert eine der Stärken seines Films. Manchmal seien die Dinge eben ganz einfach, meint der Filmemacher.
Wunden und Grasnarben
Im Gespräch betont er die politische Komponente dieser gesellschaftlichen Rückbesinnung. Da Anbauen von Pflanzen sei eine konkrete Arbeit, der Direktvertrieb der Lebensmittel, wie ihn die Genossenschafter von den «Jardins de Cocagne» pflegen, eine Möglichkeit, gemeinsam Verantwortung wahrzunehmen.
Und gerade darum interessiert sich Humbert auch für pflanzende und erntende Menschen in urbanen Zonen wie der ruinierten einstigen Auto-Stadt Detroit in den USA.
Da gelingen ihm neben den mittlerweile bekannten Bildern von zerfallenden, zuwachsenden Häusern auch Einstellungen, die er als Filmemacher und wir als Kinogänger als Geschenk empfinden. Etwa die Sequenz mit dem Hund, der unbeirrt minutenlang auf der Grasnarbe neben der Strasse vor sich hin trottet.
Starke Bilder
Nicht alles in diesem Dokumentargedicht erreicht die gleiche Schlüssigkeit. Das indianische Ritual, das Milo Yellowhair am Schicksalsort von Wounded Knee vollzieht, ergibt ein starkes Bild.
Der Mann, der mit Bündeln brennender Salbeipflanzen einen Drahtzaun entlang schreitet, lässt mit seinem Singsang Gedanken an eingezäunte Natur, Kriegsgreuel und «Gras drüber wachsen lassen» aufkommen. Gleichzeitig beschwört das Bild aber auch vergangene Öko-Kitsch-Perioden im westlichen Sehnsuchtsgebäude.
Ein poetisches Vergnügen
Aber «Wild Plants» ist ein von der Baslerin Simone Fürbringer sorgfältig montierter, langsamer, organischer Film mit einem ausgeklügelten Sounddesign von Jörg Elsner und einer sorgfältigen Integration von Musik (Georg Zeitblom) und Bild.
Wie immer bei Nicolas Humbert, diesem «ganzheitlichen» Filmemacher: ein poetisches Vergnügen, das Geduld fordert und belohnt.
Kinostart Deutschschweiz: 27.10.2016
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur aktuell, 26.10.2016, 16:50 Uhr