Die junge Ärztin Jenny Davin (Adèle Haenel) hat einige Monate die Praxis eines sich zurückziehenden alten Hausarztes geführt und soll in ein paar Tagen in einer renommierteren Klinik in Liège anfangen.
Eine Leiche vor der Praxis
Als sie an ihrem letzten Abend eine Stunde nach Praxisschluss die Türe nicht mehr öffnet, als es klingelt, stellt sich am nächsten Tag heraus, dass da eine junge Frau Einlass suchte, die kurz darauf tot mit Schädelbruch am Ufer der gegenüberliegenden Meuse gefunden wurde.
Jenny ist dermassen erschüttert, dass sie nicht nur auf den prestigeträchtigen Klinikjob verzichtet und die kleine Allgemeinpraxis übernimmt, sie beginnt auch auf eigene Hand nachzuforschen, wer das Mädchen gewesen sein könnte. «La fille inconnue» ist zweifellos ein Dardenne-Film, auch wenn das Drehbuch manchmal einen Hauch von Hercule Poirot oder Miss Marple verströmt. Die junge Ärztin, welche sich als Detektivin betätigt, gegen den Widerstand der Polizei, das riecht nach Genrekino.
Aber natürlich inszenieren die Brüder Dardenne das alles ganz anders. Zum einen ist Jenny keine verschmitzte Heldin, sondern eine in ihren Grundfesten erschütterte junge Frau auf der Suche. Und zum anderen erweist sich schnell, dass der Alltag der Hausärztin mit ihren Besuchen, Anrufen beim Sozialamt, nächtlichen Hilfestellungen und viel Knochenarbeit mindestens den gleichen Raum einnimmt, wie der Plot um die junge Tote.
Bekannte Dardenne-Stammgarde
Einmal mehr ist die männliche Stammgarde der Dardennes mit von der Partie: Olivier Gourmet als nicht ganz sauberer Garagist mit einem alten Vater, der mehr weiss, als er zugeben mag. Und Jérémie Renier als Vater eines Jungen, der offenbar das Mädchen gesehen hat, als sie noch lebte, aber das nicht zugeben will.
Die Dardennes, die mit Vorliebe auf weibliche Hauptfiguren setzen (Arta Dobroshi in «Le silence de Lorna», Cécile de France in «Le gamin au vélo», Marion Cotillard in «Deux jurs, une nuit») wechseln ihre Schauspielerinnen von Film zu Film, behalten aber ihre männlichen Lieblingsdarsteller nach Möglichkeit bei.
Routine auf hohem Niveau
Aber für «La fille inconnue» scheinen sie ihre übliche kunstvolle Verschränkung von menschlichem Dilemma und menschlichem Alltag eine Spur zu weit getrieben zu haben. Oder es liegt einfach an der Ausgangssituation, die jedem zweiten Fernsehkrimi Konkurrenz machen könnte: Es gibt Momente, da wirkt der Film konstruiert, der sorgfältige Realismus eingeschoben. Auch die Dardennes haben damit für einmal so etwas wie Routine erreicht – wenn auch auf sehr hohem Niveau.