Wenn ein Film bei seiner Premiere in Cannes über fünf Minuten Applaus erhält, muss er etwas ganz Besonderes sein. «Ma vie de Courgette» ist ein solcher Sonderling, weil er einen mitten ins Herz trifft. Der Walliser Claude Barras erzählt in seinem Spielfilmdebüt vom langsamen Aufblühen eines Waisenjungen namens «Courgette». Der merkwürdige Spitzname, der auf Deutsch «Zucchini» bedeutet, ist eine Schöpfung seiner alkoholkranken Mutter, die bereits in der ersten Filmszene stirbt.
Danach kommt Courgette, der optisch eigentlich mehr einer Kartoffel als einer Zucchini gleicht, ins Waisenhaus. Obwohl es dort nur so von traumatisierten Kindern wimmelt, setzt der Stop-Motion-Film nicht auf Betroffenheit. Stattdessen verlässt man als Zuschauer den Kinosaal nach 66 Minuten beschwingt – wie nach einem guten Feel-Good-Movie.
Gleiches Thema – grundverschiedene Form
Eine ganz andere Tonalität besitzt Remo Scherrers «Bei Wind und Wetter». Der 29-jährige Absolvent der Hochschule Luzern – Design & Kunst nähert sich dem Thema Alkoholismus in seiner aufwühlenden Masterarbeit mit dem offenem Ohr eines Dokumentarfilmers.
Auf der Tonspur hören wir die Psychologin Wally Wagenrad, die von ihrer schwierigen Kindheit als Tochter einer Trinkerin erzählt. Dazu sehen wir stark reduzierte Schwarzweiss-Animationen eines Rummelplatzes, die viel Raum für Assoziationen lassen. Das Ergebnis fährt ein und hinterlässt Wirkung. Wer diesen elfminütigen Trip in die Schattenwelt des Alkohols erlebt hat, ist nachhaltig für die Thematik sensibilisiert.
Glänzende Zukunftsaussichten für beide Filme
Für die Schweiz ist die Nominierung der Animationsfilme von Remo Scherrer und Claude Barras in den Reihen «Sélection Cinéfondation» und «Quinzaine des réalisateurs» freilich ein Glücksfall.
Für «Ma vie de Courgette» dürfte die renommierte «Quinzaine» zudem nur die erste Station einer langen und erfolgreichen Festival-Laufbahn sein. Schweizer Zuschauer werden den herzerwärmenden Stop-Motion-Hit wohl im September am Trickfilm-Fest «Fantoche» in Baden zum ersten Mal zu Gesicht kriegen. Und von Remo Scherrers verdienstvollem Kleinkunstwerk «Bei Wind und Wetter» werden wir spätestens bei der nächsten Vergabe des Schweizer Filmpreises wieder hören.