SRF: Sie spielen im Film «Sparring», der in Locarno Weltpremiere feiert, einen Boxer. Wie haben Sie sich auf die Rolle vorbereitet?
Matthieu Kassovitz: Ich habe mit dem Regisseur Samuel Jouy entschieden, im Film echte Boxkämpfe zu zeigen. Wir haben so hart trainiert, als stände ein echter Boxkampf bevor.
Bei einem guten Projekt will man mitmachen – egal ob als Techniker, Praktikant, Schauspieler oder Regisseur.
Das Boxen ist für Sie auch privat zu Leidenschaft geworden. Was fasziniert Sie daran?
Boxen ist ein Kampf gegen sich selbst. Ein Sport, bei dem man herausfindt, wie weit man gehen kann, ob man über sich selbst hinauswachsen kann. Man gewinnt oder verliert.
Wenn man verliert, ist man oft gebrochen. So extrem ist das bei anderen Sportarten nicht. Ähnliche Kämpfe gibt es auch im Leben.
Kassovitz' Karriere in Bildern
In Ihren Filmen spielt der Kampf oft eine wichtige Rolle. In «Amen.» kämpfen Sie zum Beispiel gegen Nazis. Auch «La Haine» ist gewissermassen eine Kampfansage. Sehen Sie sich als jemanden, der Kino macht, um für etwas einzustehen?
Als Schauspieler wähle ich die Rollen nicht aus. Ich spiele, was mir angeboten wird. Als Regisseur kann man mehr bestimmen, wie ein Film sein soll, mehr beeinflussen.
Aber schlussendlich gilt: Wenn man an einem guten Projekt teilnehmen kann, das einem am Herzen liegt, dann will man mitmachen – egal wie. Ob als Techniker, als Praktikant, als Schauspieler oder als Regisseur. Ich hatte schon alle diese Rollen.
Sie haben mehrmals gesagt, dass Ihnen das Kino, das in Cannes gezeigt wird, missfällt. Trotzdem würden Sie in diesen Filmen mitspielen, um zu verstehen, wie dieses Kino tickt. Sie opfern sich also, um zu verstehen?
Nein, für mich ist es kein Opfer. Ich bin neugierig. Es gibt das Kino, das ich gerne als Regisseur mache. Ich spiele aber auch in Filmen, die ich persönlich nicht machen und nicht schauen würde. Sie sind nicht mein Geschmack.
Beispielsweise Michael Haneke: Ich mag viele seiner Filme, andere hasse ich. Aber ich bin neugierig zu sehen, wie er arbeitet.
Heute sind die Probleme in den Banlieues zu gravierend. Man kann sie nicht mehr mit Leichtigkeit behandeln.
22 Jahre ist es her, seit Ihr Film «La Haine» erschienen ist. Ein Film, der viel vorausgenommen hat – und heute sehr aktuell ist.
Ich habe nichts vorausgesagt, ich habe nur die Situation beschrieben. Wenn man das heute machen würde, würde das viel schlimmer aussehen. Aber einen Film über die aktuelle Situation zu machen und wie sie sich entwickeln könnte: Das wäre heute viel zu hart.
«La Haine» ist eigentlich eine Komödie. Die Leute lachen alle fünf Minuten. Deswegen hat der Film auch funktioniert. Die Tragödie aber, die heute täglich vor sich geht: Die kann niemanden mehr zum Lachen bringen.
Heutzutage sind die Probleme in den Banlieues viel zu gravierend. Man kann sie nicht mehr mit Leichtigkeit behandeln.
Sie sind sehr aktiv auf Twitter, äussern sich politisch, provozieren. Sie nennen sich auf Twitter selbst «Pöbler». Sind Sie Pöbler mit einem Vorhaben?
Ich glaube, wir haben alle etwas zu sagen. Aber es kommt darauf an, wie man das Leben sieht. Entweder man akzeptiert die Dinge, wie sie sind, oder man hinterfragt sie. Wenn man sie nicht hinterfragt, lebt man wohl besser. Ich finde es aber viel interessanter, sich Fragen zu stellen und zu provozieren.
Heute jedoch haben Sie einen Grund zu feiern: Sie werden mit einem Ehrenleoparden ausgezeichnet, ein Preis für Ihr Schaffen. Sind Sie auf etwas besonders stolz?
Das kann ich Ihnen erst in 50 Jahren sagen.
Das Gespräch führten Julie Evard und Danja Nüesch.