Wir werden immer älter. Und im Alter gebrechlich. Eine Krankheit, an der die Menschen immer leiden, lässt sie vergessen: die Alzheimerkrankheit oder Demenz. So widmen sich auch Filme öfter diesem Thema.
Im Dokumentarfilm «Vergiss mein nicht» porträtierte David Sieveking eindrücklich seine Mutter, die an Alzheimer litt. Mit diesem einfühlsamen Film überzeugte er 2012 die Jury der «Semaine de la critique» in Locarno.
Tanzworkshop für Altgewordene
In diesem Jahr ist es die Schauspielerin und Regisseurin Valeria Bruni Tedeschi, die sich dem Thema dokumentarisch nähert. Der Film «Une jeune fille de 90 ans» feierte am Donnerstag auf dem Filmfestival Locarno seine Weltpremiere.
Der renommierte Choreograf Thierry Thieû Niang leitet einen Tanzworkshop mit alzheimerkranken Patienten auf einer geriatrischen Abteilung des Krankenhauses Charles Foix.
Zum Leben ermuntert
Mit langsamen, dann wieder energischen Bewegungen, begleitet von alten Chansons aus der Jugend der Patienten, ermuntert Niang die Beteiligten. Tatsächlich lebt die Runde der Dementen sicht- und hörbar auf. Einige versuchen, mit zu singen, andere wippen zaghaft mit dem Fuss.
Niang widmet sich in Paartänzen seinen Partnern mit Respekt und Sensibilität. Und die Gesichter spiegeln bald unerwartete Freude, Überraschung und vor allem neu entfachte Lebensfreude wieder.
Vertrauen und Hingabe
Täglich besucht Niang die Patienten. Gewinnt ihr Vertrauen täglich neu. Besonders Blanche Moreau, 92 Jahre alt, ist angetan vom immer wiederkehrenden Besuch, der sich mit Hingabe den Alzheimerkranken widmet.
Die anfängliche Verwirrung der 92-Jährigen weicht von Tag zu Tag. Im Tanz mit dem Choreographen findet sie den Lebenssinn zurück, der längst verschüttet war. Eine jugendliche Verliebtheit ergreift Blanche, die Choreograf Thierry liebevoll beim Vornamen nennt.
Das gebannte Publikum erfährt durch Gespräche mit dem Personal, aber auch über Blanches Tanz, ihrem Gesichtsausdruck und ihren verschwommenen Erinnerungen immer mehr, über die einstige Lebenslust und Lebenskunst der Patientin.
Von der fiktiven Autobiografie zum Dokumentarfilm
Bruni Tedeschi machte sich als Regisseurin zuvor mit sehr persönlichen, autobiografischen Filmen einen Namen.
Ihre drei bisherigen Regiearbeiten «Il est plus facile pour un chameau …» (2003), «Actrices» (2007) und «Un château en Italie» (2013) drehten sich ausschliesslich um sie selbst: Valeria Bruni Tedeschi als Tochter, Schwester und Geliebte, als Schauspielerin oder als Frau mit Mutterwunsch.
Die Filme waren, trotz ihren eindeutig autobiografischen Bezügen Fiktion. Nun debütiert die Allrounderin im Dokumentar-Fach und wie so oft mit Bravour. Als Co-Regisseurin realisierte sie den Film «Une jeune fille de 90 ans» gemeinsam mit Yann Coridian.
Ein Gefühlt holt Blanche zurück
«Une jeune fille de 90 ans» entwickelt sich trotz der Schwere seines Themas zu einem schwebenden Traum, den Blanche noch einmal träumen darf. Ihre Sehnsucht nach Liebe tritt in den Vordergrund, die Krankheit immer mehr in den Hintergrund.
So, wie das allzu menschliche Gefühl von Verliebtheit Blanche in die Welt zurück bringt, in der sie ein bisschen mehr Glück empfindet, so fühlt der Zuschauer mit diesem kleinen, klugen und einfühlsamen Film mit, taucht ein in seine Welt.
Was Bruni Tedeschi und Coridian filmisch und was dem Choreografen Niang tänzerisch gelingt, ist den wegdämmernden Menschen auf der geriatrischen Abteilung mit grossem Respekt zu begegnen. Sie erkennen ihnen ein Stückchen Würde zu und bereiten ihnen Freude.