Tropische Natur. Dschungel. Sümpfe. Hier und da frei herumlaufende Hühner und Hunde. Halboffene Holzhütten ohne Strom. Ein paar Dorfbewohner. Meist regnet es. Immer ist es feucht. Pfützen. Und ständig bläst bedrohlich der Wind.
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Wir befinden uns in einem kleinen, abgelegenen Dorf auf den Philippinen der 1970er-Jahre, kurz bevor Ferdinand Marcos im ganzen Land das Kriegsrecht verkündet. Die Stimmung ist bedrückend. Unbekannte Leute tauchen auf, Soldaten marschieren ein. Niemand weiss genau, was geschieht und warum. Auch als Zuschauer kommt man sich in Lav Diaz' Film zunächst etwas verloren vor. Die Kameraeinstellungen dauern ungewohnt lang. Nicht immer sieht man genau, was passiert. Die Kamera schaut weg. Man fühlt sich gefangen, will den Blickwinkel wechseln. Doch man kann nicht.
Rund 50 Leute hielten bis zum Ende durch
Auch wenn dreistündige Beiträge in Cannes mittlerweile normal sind: Einen so langen Spielfilm auf Grossleinwand zu sehen, ist etwas Besonderes, was fast nur noch an Filmfestivals möglich ist.
Denn Filme jenseits der durchschnittlichen 110 Hollywood-Minuten haben beim breiten Kinopublikum immer noch einen schweren Stand – auch in einer Zeit, in der so mancher Serienfan an einem Abend sechs Episoden von «Homeland», «Game of Thrones» oder «Breaking Bad» am Stück schaut. Bei der ersten Publikumsvorführung von «Mula sa Kung Ano ang Noon» am Donnerstag waren es etwas nur über 50 Leute, die die fünfeinhalb Stunden zu Ende geschaut haben.
Schade. Denn hat man sich mal in Diaz' Welt verloren, wird Zeit sehr schnell zur Nebensache. Dafür entstehen Emotionen von ungewohnter Intensität. Diaz selbst sieht die extreme Filmlänge als wichtiges Stilmittel. Damit ziele er auf eine radikale Wahrnehmungsveränderung beim Publikum ab.
Die schmerzvolle Geschichte der Philippinen
Was in einem Hollywoodfilm manchmal nicht mehr als fünf Minuten benötigt, dauert in «Mula sa Kung Ano ang Noon» eineinhalb Stunden: Ganz langsam wird man in das kleine Dorf hineingezogen. Schritt für Schritt lernt man seine Bewohner kennen: den Bauern Sito und seinen Adoptivsohn Hakob. Itang und ihre behinderte Schwester Joselina. Den Weinbauern Tony, der bei der wehrlosen Joselina seine Fleischeslust befriedigt. Die invasive Strassenverkäuferin Heding, die plötzlich auftaucht, Misstrauen verbreitet und die Dorfbewohner ausspioniert. Und bevor man es realisiert, ist man als Zuschauer selbst in das kleine philippinische Dorf eingetaucht.
Diaz' Filme befassen sich immer wieder mit der schmerzvollen, jüngeren Geschichte seines Heimatlandes – vor allem der Militärdiktatur unter Ferdinand Marcos. Marcos regierte ab 1972 das Land diktatorisch. Oppositionelle, Studenten, Journalisten und Gewerkschafter liess er in Militärlagern inhaftieren. Und so scheint auch das kleine Dorf in «Mula sa Kung Ano ang Noon» allegorisch für das Schicksal der Philippinen während dieser Zeit zu stehen. Einer Zeit, in der Misstrauen und Lügen für viele Menschen überlebenswichtig wurden.
Die Unmenschlichkeiten eines jeden Einzelnen
Diaz gräbt nach der Wurzel des Übels. Er fragt: Liegt die Ursache dieser dunkelsten Perioden der philippinischen Geschichte vielleicht nicht auch in all den kleinen Unmenschlichkeiten jedes Einzelnen?
«Als Künstler ist man verpflichtet, seiner Heimat zu helfen. Auch wenn ich nur die Perspektive von fünf Leuten verändere, war es die Mühe wert», sagte Diaz einmal dem Philippine Daily Inquirer . Auseinandersetzung braucht Zeit. Und zwar so viel, dass sie zur Nebensache wird. Bereits zu Beginn spürt man das Unheil kommen. Vier Stunden dauert es, bis es im Film schliesslich ausgesprochen wird: «Ich habe das Gefühl, die Hölle zieht heran.»