«Was willst du hören? Er hat sich aufgehängt!», sagt Jonas. Seiner Freundin dabei in die Augen zu sehen – das schafft er nicht.
Zu tief sitzt der Schmerz über den Selbstmord seines Bruders. Sich mit seinen Gefühlen auseinandersetzen will er nicht. Er ahnt: Sie lassen sich nicht kontrollieren. Genauso wenig wie die Taten, die er begehen wird.
Gewissheit darüber hat Jonas, als er zum Dieb wird und die erste Handtasche klaut. Den Ernst der Lage erkennt er nicht. Auch dann nicht, als er das Messer zückt und zusticht.
Jonas ist der Protagonist von «Der Läufer», dem Spielfilmdebüt von Hannes Baumgartner. Jonas ist der Koch und Marathonläufer, dessen Gesicht in Zeitungen abgedruckt wird: erst als Sieger des Langenthaler Waffenlaufs, später als Phantombild eines Mannes, der Frauen würgt und ersticht.
Ein Protagonist in Form
Gespielt wird er von Max Hubacher («Der Verdingbub», «Mario»), der sich für dieses Drama einen Läuferkörper antrainiert und über die letzten Jahre schauspielerische Vielfalt erarbeitet hat. Beides lässt ihn in dieser Rolle gut aussehen.
Und sie ist keine einfache. Denn «Der Läufer» ist zwar eine fiktionale Geschichte. Doch sie ist angelehnt an eine reale Kriminalgeschichte, die Anfang der Nullerjahre Bern in Angst und Schrecken versetzte.
Damals werden in der Hauptstadt mehrere Frauen angegriffen, zum Teil mit dem Messer attackiert. Eine stirbt an den schweren Verletzungen. Der Täter? Mischa Ebner. Ein Mann, der von den Medien als «Mitternachtsmörder» und später im Gerichtssaal als «emotionslos und gefasst» bezeichnet wird.
Der damals 27-jährige Ebner gestand nach seiner Festnahme das Tötungsdelikt in Niederwangen und gab im Laufe der Untersuchungen bis zu 30 Delikte zu. Später erhängt er sich in seiner Zelle, während sein Zellengenosse vor dem laufendem Fernseher schlief.
Nun schlüpft also Hubacher in diese ambivalente Figur, die sich zwischen diszipliniertem Läufer und brutalem Straftäter bewegt.
Ungeklärt und unbekannt
Hannes Baumgartner hat mit seinem Co-Autor Stefan Staub die Namen geändert, die Ereignisse ins Heute verlegt und sich auf die Psyche eines Mörders fokussiert, der seine Taten selbst nicht versteht.
Das funktioniert. Und es ist ein interessanter Ansatz, weil seinerzeit die Beweggründe des Mörders kaum entschlüsselt wurden.
Die Filmemacher nähern sich dem Fall investigativ, unaufdringlich und verzichten fast ganz auf Musik. Das Publikum begleitet Jonas bei seinen obsessiven Trainings.
Nachts im Wald trägt er eine Stirnlampe. Ihm erleichtert sie die Sicht, sein Gegenüber wird geblendet. Jonas hechelt. Er ist fit, ehrgeizig, atemlos. Dann werden sie spürbar, die dunklen Gedanken, die durch sein Hirn pulsen. Ist er böse oder krank? Ein Zustand, der Jonas den Kopf zu zerfetzen scheint.
Er versucht seine Mordgelüste rauszuschwitzen. Doch sie bleiben. Plagen ihn die schmerzhaften Gedanken an den toten Bruder? Oder die Vernachlässigung der leiblichen Mutter?
Andeutungen und Ansätze für eine Erklärung bleiben unkommentiert. Warum das Böse in Jonas wuchert, bleibt verborgen. Nicht nur er flüchtet vor einer Konfrontation, auch der Film kapituliert davor.
Doch dem Film gelingt, was Boulevardmedien versäumen: aus einem Täter einen Menschen zeichnen, der seinen eigenen Taten mit unerträglichem Unverständnis gegenübersteht.
Dieser respektvolle Umgang mit dem Kriminalfall wird dem Film aber auch zum Verhängnis. Das Täterporträt wird weder exzessiv noch emotionalisierend gezeichnet.
Jonas kann Rennen gewinnen, aber nicht vor sich selbst weglaufen. Die Stärke des Films ist, dass er nicht den Fehler begeht, dem Täter ein eindeutiges Motiv zu geben.
«Er sah sich nicht als Mörder, das passte nicht zu seinem Selbstbild», sagte die damalige Gerichtspräsidentin über Ebner. Es ist das Unerklärbare, das einem hier die Kehle zuschnürt.