«Rear Window» spielt in einem Wohnblock in New York während einer Hitzewelle. Niemand lässt die Jalousien herunter, man sieht in alle Appartements. Das nützt der wegen eines Unfalls an den Rollstuhl gefesselte Fotograf Jefferies, gespielt von Hollywood-Star James Stewart, aus. Er beobachtet seine Nachbarn vom Fenster seiner Wohnung aus.
Der Spiegel einer kleinen Welt: Die spärlich bekleidete Tänzerin etwa, die Jungvermählten, die viel Sex haben, der verzweifelte Musiker, der Handelsreisende, der sich mit seiner bettlägerigen Frau zankt. Jefferies gelangt zur Überzeugung, dass einer von ihnen ein Mörder ist.
Befriedigung voyeuristischer Neigungen
Die Geschichte beinhaltet, was Hitchcocks Werke ausmacht: Zum einen Spannung, weil der Zuschauer im Ungewissen bleibt, ob es wirklich einen Mord gab. Zum anderen eine Romanze: Jefferies turtelt mit Lisa, einem kühlen blonden Model mit Feuer im Herzen, gespielt von Hollywood-Ikone Grace Kelly. Sie will ihn heiraten. Er aber ist bindungsscheu, will lieber als Fotograf durch die Welt ziehen.
Jefferies beobachtet lieber das Geschehen draussen, als sich in seinem Innern festzulegen. Diese Schwere fängt der Film immer wieder mit Humor auf. Lisa sagt: «Ich wäre gerne kreativ.» Jefferies antwortet: «Liebling, das bist du doch. Du bist sehr kreativ, wenn es darum geht, Probleme zu erzeugen.»
Der Thriller wurde zum Klassiker über obsessive Neugier. Die Zuschauer beobachten, wie Jefferies andere beobachtet und wie er reagiert. Sie übernehmen seinen Blickwinkel und machen sich so zu seinen Komplizen. «Rear Window» wird zur Metapher auf das Filmeschauen und das Filmemachen an sich.
Liebe zum Kino stärker als jede Moral
Kritik am Gaffen des Fotografen kommt von seiner Pflegerin Stella, sie ist sein moralisches Gewissen. Und nennt sein Teleobjektiv «tragbares Schlüsselloch»: «Voyeure bekommen sechs Monate Zuchthaus. Da gibt es kein Fenster. Früher hätte man ihnen die Augen ausgestochen.»
Hitchcock soll auf eine moralisierende Attacke gegen «Rear Window» entgegnet haben: «Nichts hätte mich davon abhalten können, diesen Film zu drehen, denn meine Liebe zum Kino ist stärker als jede Moral.»
Der Voyeurismus zahlt sich am Schluss denn auch aus: Der Mörder wird entlarvt und gefasst. Jefferies hat wegen eines Sturzes aus dem Fenster zwei Gips-Beine und wird wohl das Gaffen so schnell nicht lassen.
Doch ob sich in Liebesdingen seine distanzierte Passivität auszahlen wird, das lässt der Film offen. Und es keimt bei der Zuschauerin der Verdacht: Vielleicht ist das feige Beobachten von Menschen, die nicht wissen, dass sie beäugt werden, dieses geheime Sezieren durch Blicke, ja das schäbigere Verbrechen als der Mord?
Nicht mehr zeitgemäss
Alfred Hitchcock aber verteidigt seine Machart. In der britischen Zeitung «The Observer» erschien ein Artikel, der «Rear Window» einen grässlichen Film nannte, weil der Mann ein Voyeur sei.
Darauf antwortet der Regisseur in einem Interview: «Das war eine dumme Bemerkung, denn wen stört das schon? Wir sind alle verdorben. Das weiss doch jeder. Wenn man es nicht zu vulgär macht. Man muss es bei der Neugier belassen. Kein Mensch kann dem widerstehen.»
Diese Aussagen und das Voyeuristische in «Rear Window» sind heute nicht mehr zeitgemäss. Vor 70 Jahren aber machten sie Alfred Hitchcock zur Legende.