Franz Schnyder war ein Gigant des unabhängigen Schweizer Films: Zwischen 1940 und 1970 inszenierte und produzierte der gebürtige Emmentaler 13 Langspielfilme, darunter eine Handvoll der erfolgreichsten einheimischen Kinofilme des 20. Jahrhunderts.
Sein Name ist bis heute untrennbar mit dem Werk des Berner Pfarrers und Dichters Jeremias Gotthelf verbunden, das er mit «Uli der Knecht», «Uli der Pächter» oder «Die Käserei in der Vehfreude» adäquat für die Leinwand adaptiert hat. Wie ihre literarischen Vorlagen gehören die Filme noch heute zu den herausragenden Werken schweizerischen Kulturschaffens. Franz Schnyder verstarb vor 20 Jahren, am 8. Februar 1993.
Aufwändige digitale Restaurierung
Schweizer Radio und Fernsehen SRF hat zusammen mit der Cinémathèque suisse und der Stiftung Memoriav das Werk von Franz Schnyder aufwändig digital restauriert. In zwei Fällen hat Franz Schnyder seine Urfassungen nachträglich überarbeitet und dabei auch die Original-Negative verändert. Die Restaurierung der ursprünglichen Fassungen wird damit fast unmöglich.
Im einen Fall handelt es sich um Schnyders ersten Film, den er mit seiner eigens gegründeten Firma «Neue Film AG» produziert hatte: «Der 10. Mai». 1957 brachte er das Gesellschaftsdrama in die Kinos. Es schildert die ersten 24 Stunden – vom frühen Morgen des 10. Mai bis zum frühen Morgen des 11. Mai 1945 – in denen die Schweiz nach Hitlers Überfall auf die Benelux-Staaten mit dem Einmarsch deutscher Truppen rechnen musste. Ein politischer Flüchtling aus Deutschland erlebt hautnah, wie die Schweizer und ihre Behörden auf diese Bedrohung reagieren.
Der «10. Mai»: Nach Misserfolg umgeschnitten
Obwohl Schnyder das damals kontroverse Thema mit viel Rücksichtnahme umsetzte, blieb das Publikum den Sälen fern und bescherte dem mutigen Filmemacher einen hohen finanziellen Verlust. Einzig die Presse fand lobende Worte. Die Schweizer Bevölkerung war 1957 – mitten im Kalten Krieg und kurz nach dem Ungarn-Aufstand – noch nicht bereit, sich kritisch mit der eigenen Vergangenheit auseinanderzusetzen.
Original-Kopien vermutlich von Schnyder vernichtet
1976 entschloss sich Franz Schnyder, der seit fast zehn Jahren keinen Film mehr gedreht hatte, eine neu geschnittene Fassung von «Der 10. Mai» in die Kinos zu bringen. Die Zeit für eine Wiederaufführung schien gekommen, denn seit 1967 das Sachbuch «Das Boot ist voll» von Alfred A. Häsler für Furore gesorgt hatte, war die Diskussion über die Schweiz im Krieg salonfähig geworden.
Zusammen mit dem Cutter Hermann Haller kürzte Schnyder die Urfassung. Er ergänzte den Film mit einer Einführungssequenz aus Beiträgen der Filmwochenschau, welche die damalige Stimmung wiedergaben. Diese Neufassung schnitt Schnyder aus den Original-Negativen von 1957, so dass seither nur noch die «verstümmelten» Negative und die daraus hergestellten Kinokopien verfügbar sind. Die originalen Filmkopien von 1957 hat Schnyder vermutlich eigenhändig vernichtet.
Die Suche führt nach Deutschland
Als die Filmredaktion von SRF im Jahr 2009 mit der Restaurierung von «Der 10. Mai» begann, machte der Filmhistoriker Felix Aeppli die Verantwortlichen auf eine Filmrolle aufmerksam, die im Zürcher Stadtarchiv im Nachlass des Schauspielers Emil Hegetschweiler aufbewahrt wurde. Sie enthält eine kurze Szene aus dem Anfang des Films, die in der Neufassung nicht mehr vorhanden ist. Auf der Büchse der Filmrolle hatte Franz Schnyder eine persönliche Widmung angebracht: «Meinem lieben Hegi zum 70. Geburtstag - Dein Franz Schnyder».
Warum er ihm gerade diese Szene geschenkt hatte, lässt sich leider nicht mehr herausfinden. Da die Übergabe noch 1957 stattgefunden haben muss («Hegi» starb bereits 1959), kann sie nicht im Zusammenhang mit den Kürzungen von 1976 stehen. Diese einzelne Szene veranlasste den verantwortlichen Redaktor bei SRF, weitere Nachforschungen zur Urfassung des Films anzustellen.
Mit dem Prädikat «Besonders wertvoll» ausgezeichnet
Hinweise von Hervé Dumont in seinem Standardwerk «Geschichte des Schweizer Films» liessen vermuten, dass der Film nach 1957 auch in Deutschland gezeigt wurde. Dumont zitiert Schnyder wie folgt: «Die deutsche Regierung hat mir den Film abgekauft, als Unterrichtsmittel über Schwächen und Stärken der Demokratie».
Zuvor, im Juni 1958, wurde der Film gemäss Dumont an der Berlinale gezeigt und mit dem Prädikat «Besonders wertvoll» ausgezeichnet. Und tatsächlich: Im deutschen Filminstitut in Wiesbaden lagerte ein unversehrtes 35mm-Negativ der Version, die ab Ende der 1950er-Jahre in der BRD gezeigt wurde. Das Filmarchiv stellte die Rollen leihweise zur Verfügung. Nun konnte SRF die in der 1976er-Version fehlenden oder gekürzten Bildteile digitalisieren. Danach wurde aus dem gesamten vorliegenden Material die deutsche Kinoversion nachgeschnitten.
Versöhnliches Original, kritische Neufassung
Sendungen zum Thema
Ein Vergleich der fertigen Fassungen zeigte, dass sie zwar keine gravierenden Unterschiede in der Schnittfolge aufwiesen, jedoch in den Details und in der Grundstimmung stark variieren. Die deutsche Urfassung war in der Aussage bedächtiger und versöhnlicher.
In der 1976er-Version fehlen einige Szenen, vor allem aber ist sie – der Zeit entsprechend – schneller geschnitten. Das heisst: Weniger Auf- und Abblenden, kürzere Szenenübergänge. Vor allem aber fällt die härtere Haltung gegenüber dem deutschen Flüchtling auf. Der versöhnliche Schluss der Urfassung, in der der Flüchtling mit grosser Wahrscheinlichkeit im Land bleiben darf, wird in der Neufassung eher kritisch dargestellt: Plötzlich ist eine Rückstellung an die Grenze möglich.
Durchgehende Tonspur in Schweizerdeutsch
Doch mit diesen beiden Versionen ist die Geschichte noch nicht zu Ende. Für eine DVD-Veröffentlichung recherchierte die Filmproduktionsgesellschaft Praesens-Film, wann die Schweizer Urfassung letztmals in den Schweizer Kinos zu sehen war. Dabei tauchte im Archiv der Cinémathèque suisse eine 16mm-Kopie auf, die seinerzeit vom Schweizer Schul- und Volkskino verwendet wurde. Diese unterschied sich an einigen Stellen von der deutschen Urfassung. Doch sie verfügte, was besonders wichtig war, über eine durchgehende Tonspur in Schweizerdeutsch.
Für eine Bildrestauration reicht die Bildqualität aber nicht aus. In einem letzten Schritt wurde nun versucht, aus dem bereits digitalisierten Bildmaterial der deutschen und der gekürzten Schweizer Fassung sowie der schweizerdeutschen Tonspur der 16mm-Kopie die ursprüngliche schweizerdeutsche Fassung zu rekonstruieren. Das Resultat wird demnächst auf DVD veröffentlicht.
Gotthelf unter dem Messer
Weniger Glück hatte SRF bei der Restaurierung des Gotthelf-Klassikers «Anne Bäbi Jowäger». 1843 beauftrage die Berner Regierung Jeremias Gotthelf mit einer Schrift, welche die Kurpfuscher und Wunderheiler anprangern sollte, die sich zum Schaden der Schulmedizin auf dem Land umhertrieben. Seinem Temperament folgend schrieb Gotthelf einen ausladenden Roman in zwei Teilen, in dessen Zentrum Glauben, Unglauben und Aberglauben steht. Im März 1843 erschien der erste Teil «Wie Anne Bäbi Jowäger haushaltet und wie es ihm mit dem Doktern geht», ein Jahr später folgte die Fortsetzung.
Feine, stimmungsvolle Töne
Franz Schnyder hielt sich bei seiner Verfilmung im Jahr 1960 vorerst an die Vorlage. «Wie Jakobli zu einer Frau kommt» erzählte er komödiantisch, mit saftig derbem Humor. In «Jakobli und Meyeli» überwogen die feinen, stimmungsvollen Töne. Der mittelmässige Kinoerfolg vor allem des zweiten Teils liess Schnyder keine Ruhe. Bereits 18 Monate später fasste er die beiden Teile zu einem abendfüllenden, stark gekürzten Film zusammen. 1978 präsentiert er schliesslich eine zweite, noch radikaler geschnittene Fassung. Allerdings ergänzte er den Film auch mit zusätzlichen Szenen, die er in den früheren Versionen nicht verwendet hatte.
Wie schon bei «Der 10. Mai» nahm Schnyder die Kürzungen an den Original-Negativen vor. Eine technisch hochwertige Rekonstruktion der ursprünglichen Teile ist deshalb fast ausgeschlossen. Zwar existieren stark beschädigte Kopien der Urfassungen, aber nur für die letzte, stark gekürzte Fassung liegt noch das hochwertige Negativmaterial vor. Und nur diese Version konnte bisher digital restauriert werden.
Kummer mit den Kummerbuben
Der letzte Film, den Franz Schnyder inszenierte und 1968 ins Kino brachte, war «Die sechs Kummerbuben» nach dem gleichnamigen Roman von Elisabeth Müller aus dem Jahr 1934. Um diesen aufwändigen, in Farbe geplanten Film finanzieren zu können, arbeitete Schnyder mit dem noch jungen Schweizer Fernsehen zusammen. Aus dem gedrehten Material sollte ein zweistündiger Kinospielfilm sowie eine dreizehnteilige Fernsehserie entstehen. Als Gegenleistung übernahm das Fernsehen rund die Hälfte der Kosten. Zwei Millionen kostete das Projekt – ein grosses Budget für die damalige Zeit.
Kinoflopp und Fernseherfolg
Der Film, der im Revolutionsjahr 1968 ein völlig überholtes Bild der Jugend präsentierte, floppte im Kino. Dafür feierte die Fernsehserie, die fast gleichzeitig ausgestrahlt wurde, einen riesigen Erfolg. Heute kann der Zuschauer beide Versionen mit nostalgischem Blick betrachten und sich über die harmlosen, aber liebevoll inszenierten Geschichten rund um die arme Familie Kummer mit ihren sechs Lausbuben freuen.
Weil das Negativ der Kinoversion verschollen ist, musste SRF vor einigen Jahren den Film auf Basis der TV-Serie rekonstruieren. 2013 wird das gesamte Material erneut in HD digitalisiert und restauriert, damit auch Schnyders letztes Werk bestmöglich erhalten bleibt und weitere Generationen von Zuschauern erfreuen kann.