Sie sind das filmische Äquivalent der Geisterspiele in der Fussball-Bundesliga: die Online-Festivals. Begeisterungsstürme lösen sie keine aus.
Denn eigentlich leben Filmfestspiele – ähnlich wie Sportveranstaltungen – ja gerade von ihrem Versammlungscharakter. Fällt dieser weg, fehlt etwas Wesentliches. Etwas, das man als die Seele des Anlasses bezeichnen könnte.
Lieber untot als tot
Festivals, die wegen Corona ins Netz flüchten, erinnern darum an Zombies: Untote, die als unheimliche Zeitzeichen ein kärgliches Dasein fristen und ohne inneres Feuer herumgeistern.
Im Grunde gibt es nur zwei Dinge, die sie am Leben halten: Da ist einerseits ihre Weigerung, zu sterben. Und andererseits der Zuspruch der gelangweilten Öffentlichkeit, die kleinlaut eingesteht: Besser als gar keine Unterhaltung sind Online-Festivals allemal.
Tribeca als Treiber
Als sich abzeichnete, dass Cannes 2020 nicht stattfinden würde, witterte das Tribeca Film Festival seine Chance und entwarf kurzerhand eine Ersatzveranstaltung: «We Are One» – ein digitales Gemeinschaftsprojekt mit Tribeca als federführende Kraft.
Getrieben vom eigenen Pioniergeist, sowie dem Gedanken, sich in der Sphäre zwischen Kino und Wohltätigkeit weiter zu profilieren. Schliesslich hatte Robert De Niro das New Yorker Filmfest einst als Reaktion auf die Anschläge des 11. Septembers lanciert.
Nun steckt die Stadt, die niemals schläft, erneut in der Krise. Doch die Welt ist inzwischen eine ganz andere – mit völlig anderen Bedrohungen und Möglichkeiten.
Spenden erwünscht
So gab das Tribeca Film Festival die Gewinner seiner jüngsten Ausgabe auf Instagram bekannt. Der zwischen dem 29. Mai und dem 7. Juni stattfindende Online-Event «We Are One» wird ferner exklusiv auf Youtube zu sehen sein.
Und zwar komplett kostenlos, für diejenigen, die keine Kollekte entrichten möchten. Wer dagegen dem Aufruf folgt und seinen Obolus leisten will, unterstützt damit eine Auswahl lokaler Hilfsorganisationen sowie die Weltgesundheits-Organisation WHO.
Sammelsurium ohne Signatur
Tribeca-Mitbegründerin Jane Rosenthal bringt die Idee hinter dem Charity-Projekt folgendermassen auf den Punkt: «Die ganze Welt braucht jetzt Heilung. ‹We Are One: A Global Film Festival› vereint zu diesem Zweck Kuratoren, Künstler und Geschichtenerzähler.»
Das klingt zwar etwas vage, aber recht ambitioniert und nobel. Umso mehr enttäuscht das Programm, das erst wenige Tage vor Festivalstart bekannt gegeben wurde.
Eine künstlerische Handschrift ist da beim besten Willen nicht zu erkennen. Und das Engagement der Big Player Berlin, Cannes, Locarno und Venedig hält sich in sehr engen Grenzen.
Die Grossen geizen mit Reizen
Das Locarno Festival steuert beispielsweise bloss zwei Podiumsgespräche des Vorjahres bei. Die Plauderstunde mit Trash-Ikone John Waters, sowie selbige mit Regisseur Bong Joon-ho und Schauspieler Song Kang-ho, den bekanntesten Köpfen hinter «Parasite».
Spielfilme offeriert Locarno dagegen keinen einzigen – wie die meisten anderen grossen Festivals. Relativ neu und wirklich sehenswert sind eigentlich nur die Perlen aus der diesjährigen Tribeca-Selektion.
Die Schweiz macht mit und profitiert
Der akute Mangel grosser Namen bringt aber auch Positives mit sich: Dem blutjungen Schweizer Regisseur David Oesch wird so deutlich mehr Aufmerksamkeit zuteil.
Dessen herzhafter Kurzfilm «Cru» über eine aufopfernd kämpfende Köchin hat vor wenigen Wochen Tribecas Student Visionary Award gewonnen.
Oeschs unverhoffte Sternstunde
Nun hat sich sein Abschlussfilm der Zürcher Hochschule der Künste einen prominenten Startplatz ergattert: «Cru» läuft am Eröffnungstag, dem 29. Mai um 23:15 Uhr auf dem Youtube-Festivalkanal von «We Are One».
Der 28-jährigen Thuner kann sein Glück kaum fassen: «Für mich als Filmstudent ist das Festival eine riesige Chance. So können – dank Corona – mehr Leute meinen Kurzfilm sehen, als ich mir je erträumt habe.»