Bereits die erste Einstellung lässt erahnen: Dies ist kein Film für Weicheier. Die Nahaufnahme zeigt eine Hand, die durchs Gras streicht. Eine naturverbundene Geste, die verblüffend stark dem Beginn von «Gladiator» gleicht. Alles reiner Zufall? Mag sein. Doch egal, wie bewusst das Zeichen gesetzt wurde, die Anspielung passt.
Was folgt, ist harter Tobak: Tante Dete hat nach drei Jahren genug vom Kinderhüten. Heidi muss weg. Darum schiebt sie die Verantwortung in die Hände eines einsamen, alten Mannes mit zweifelhaftem Ruf.
Wer die Romane von Johanna Spyri aus dem 19. Jahrhundert gelesen hat, weiss: Der Film hält sich eng an die Vorlage. Neu ist nur der realistisch-schroffe Tonfall.
Das stärkste Zitat
«Verschwind‘ samt em Kind!» raunzt der grimmige Alpöhi Dete an, die Schwester der verstorbenen Mutter von Heidi. Dete hat ihm soeben klar gemacht, dass er sich als einziger lebender Blutsverwandter nun um Heidi kümmern muss. Doch der verzottelte Eigenbrötler schert sich vorerst einen Dreck um Opa-Pflichten. Schauspiel-Legende Bruno Ganz ist als bärbeissiger Bergler eine Naturgewalt. Der 74-jährige Träger des Iffland-Rings beweist damit einmal mehr: Die Wut, die steht Ganz gut!
Der Regisseur
Alain Gsponer kehrt mit «Heidi» zu seinen Regie-Anfängen zurück. Sein erster Kurzfilm aus dem Jahre 1998 trug denselben Titel. Die animierte Satire stellte lustvoll das Image der Schweiz als Heidi-Land infrage. Richtig lanciert wurde die Karriere des gebürtigen Schweizers aber erst vor zehn Jahren mit seinem ersten Langspielfilm «Rose». Die berührende Liebeserklärung an alleinerziehende Mütter wurde unter anderem als «Bester Fernsehfilm» ausgezeichnet. Ebenfalls im bereits erstaunlich breiten Oeuvre des erst 39-Jährigen: Zwei Martin-Suter-Verfilmungen (der Kinofilm «Lila, Lila» und die TV-Produktion «Der letzte Weynfeldt»), das Dokudrama «Akte Grüninger» und der Kinderhit «S chliine Gspängst».
Fakten, die man wissen sollte
Fällt der Name «Heidi», denkt die Mehrheit der Einheimischen an den Schweizer Schwarzweiss-Kinoklassiker von Luigi Comencini. Doch schon ein flüchtiger Blick über die Grenzen macht klar: Heidi ist nicht nur bei uns eine Ikone. Das Bündner Naturmädchen ist ein international gefeierter Superstar. In den USA füllte Johanna Spyris unverwüstliche Heldin schon in der Stummfilmzeit die Kassen. Danach hinterliessen aus globaler Sicht vor allem die Hollywood-Produktion mit Shirley Temple und die japanische Trickfilm-Serie von Isao Takahata bleibende Spuren. Inzwischen wissen in der Schweiz die meisten um Heidis grosse Popularität in Amerika und Fernost. Weniger bekannt ist dagegen ihr Erfolg in der muslimischen Welt: In der Türkei nennt sich das Waisenkind beispielsweise «Haydi» und gehört zum Kanon der wichtigsten Kinderbücher.
Das Urteil
Für einen Familienfilm ist «Heidi» ziemlich heftig. Punkto Dramatik gleicht die gelungene Romanverfilmung eher einem ausgewachsenen Drama als einem kindlichen Rührstück. Regisseur Alain Gsponer zeigt starke Kontraste: Arm und Reich, Natur und Kultur, Enge und Freiheit. Patriotische Schönfärberei war gestern. Das neue Heidi kommt natürlich frisch und ungewaschen daher. Die Churerin Anuk Steffen ist als unerschrockener Wildfang wie geschaffen für diese Rolle. Gute Voraussetzungen, um dem «Schellen-Ursli», dem bisher erfolgreichsten Schweizer Film des Jahres, die Stirn zu bieten. Dessen einfache Botschaft lautete: Je grösser die Glocke, desto grösser das soziale Prestige. Die Moral von «Heidi» ist ähnlich trivial: Je mehr Natur, desto mehr Lebensfreude. Bei beiden Filmen ist es nicht die Botschaft, die begeistert. Sondern die grosse Sorgfalt, mit der zwei Schweizer Mythen in ein zeitgemässes Kinovergnügen verwandelt wurden.