Die Angebote waren da, aber García Márquez blieb unbeirrt: «Hundert Jahre Einsamkeit» könne und vor allem solle nicht verfilmt werden. Die Leserinnen und Leser müssten ihre eigenen Bilder kreieren.
Über den väterlichen Willen haben sich die Söhne hinweggesetzt. Mit dem Verkauf der Rechte ermöglichten sie eine der kostspieligsten Filmproduktionen Lateinamerikas. Als Hommage an García Márquez wurde sie ausschliesslich in seinem Heimatland Kolumbien und mehrheitlich mit lokalen Schauspielern gedreht.
Kolossales Familienepos
Dieser Aufwand ist berechtigt. Der Roman von 1967 ist eines der meist bewunderten Bücher des 20. Jahrhunderts. Er wurde über 50 Millionen Mal verkauft – und war ausschlaggebend dafür, dass der Autor 1982 den Nobelpreis erhielt.
«Hundert Jahre Einsamkeit» erzählt den Aufstieg und Niedergang der Familie Buendía im fiktiven Dorf Macondo. Anhand der Familiengeschichte verhandelt der Roman zahlreiche Entdeckungen der Menschheit, zivilisatorischen Entwicklungen und Ausbeutung über sechs Generationen hinweg.
Die Macher der gleichnamigen Netflix-Serie waren bemüht, die Saga in 16 Folgen fast lückenlos zu erzählen. Das ist löblich, auch wenn das wirklich herausragende am Roman nicht die Handlung ist, sondern García Márquez' Sprache und seine Kunst, das Unglaubliche glaubhaft zu machen.
Fast beiläufig Magie
Der Roman gilt das Vorzeigewerk des magischen Realismus, jenem literarischen Stil, bei dem fantastische Geschehnisse mit der realen Welt verschmelzen. Etwa wenn der Geist eines Ermordeten wie selbstverständlich beim Stammvater der Buendías erscheint.
Das Übernatürliche erzählt García Márquez unaufgeregt und manchmal fast beiläufig, hie und da angereichert mit sachtem Humor. Eine adäquate Umsetzung gelingt der Serie nicht. Zu oft setzt sie auf eine finster vernebelte Atmosphäre oder verheissungsvolle Musik, die das Übernatürliche dramatisiert. Genau das, was García Márquez stets vermieden hat.
Ausserdem lassen die Visualisierungen immer die Frage offen, ob es sich beim Anblick eines Geistes oder herumfliegender Gegenstände nicht um reine Einbildung der Figuren handelt oder um eine symbolische Darstellung ihrer Seelenzustände.
Ganz anders beim Lesen: Hier lässt die Fantasie Nuancen zu, in denen Natürliches und Übernatürliches miteinander existieren können, ohne hinterfragt zu werden.
García Márquez im Off-Text
«Hundert Jahre Einsamkeit» ist auch deshalb schwierig zu verfilmen, weil der Roman nur sehr wenig Dialoge enthält. Stattdessen wird er getragen von einer Erzählstimme, die ähnlich einem Märchenerzähler die Geschichte ausbreitet.
Auch die Serie ist abhängig von dieser Stimme. Immer wieder ist es ein Off-Sprecher, der erzählt und dabei eins zu eins aus dem Roman zitiert. Diese Passagen strahlen mit Abstand am meisten Erzählkraft aus. Damit macht die Serie selbst deutlich, wie viel zauberhafter und eindringlicher ihre Romanvorlage ist.
Die Netflix-Serie «Hundert Jahre Einsamkeit» ist wegen den atemberaubenden Aufnahmen der kolumbianischen Karibik ohne Zweifel ästhetisch gelungen. Der Meisterhaftigkeit von García Márquez' Stil und Sprache wird sie aber nicht gerecht. So bleibt das Beste an der Serie, dass sie Lust macht, den Roman (wieder) zu lesen.
«Hundert Jahre Einsamkeit» läuft ab 11.12.2024 bei Netflix.