In seinem vermutlich letzten Film setzt der Altmeister des britischen «kitchen sink realism» auf die Themen, die ihn immer schon umtrieben: Die Solidarität der kleinen Leute und die Ungerechtigkeit des kapitalistischen Systems. Diesmal nimmt ein herzkranker, verwitweter Schreiner den Kampf auf.
«I, Daniel Blake» ist eine klassische Loach-Laverty-Kollaboration. Der Filmemacher und sein Drehbuchautor haben noch einmal das ganze Arsenal ihres sozialrealistischen Agitationskinos aufgefahren. Dabei wird deutlich, warum niemand sonst mehr diese Art von Filmen macht. Und warum sie uns fehlen werden.
In der Arbeitslosenmühle
Der Zimmermann Daniel Blake (Dave Johns) hat auf dem Gerüst einen Herzanfall erlitten. Seine Ärztin hat ihn nach der Therapie für unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Als der Film einsetzt, muss er gerade einer «Health Care Professional» ein fünfzigseitiges Fragemanual beantworten. Das soll seinen Anspruch auf Krankentaggeld klären. Die Fragen sind so angelegt, dass er bei der Auswertung für arbeitsfähig erklärt wird und damit in die Arbeitslosenmühle gerät.
Daniels Kampf gegen die Bürokratie des abgewrackten britischen Wohlfahrtssystems ist aussichtslos. Ebenso aussichtslos wie der Kampf der jungen alleinerziehenden Mutter Katie, die mit ihren Kindern von London in den Norden abgeschoben worden ist, wo die Sozialwohnungen noch erschwinglich sind. Blake setzt sich im Amt für sie ein. Er, Katie und ihre beiden Kinder werden daraufhin vor die Türe gesetzt.
Typisch, liebenswert, dramatisch
Der Film ist randvoll mit Loach-typischen Szenen: die Solidarität unter den Nachbarn und den «real blokes», Bürokratie, die Erkenntnis, dass das Sozialsystem absichtlich darauf ausgerichtet ist, Unterstützungsbezüger zu zermürben und loszuwerden, und die zelebrierte Schlitzohrigkeit.
Diese kommt beispielsweise zum Tragen, wenn Blakes junger schwarzer Nachbar mit seinem chinesischen Partner – einem Chelsea-Fan und Schuhfabrikarbeiter – via Skype verhandelt. Der schickt ihm dann in kleinen Paketen Original-Marken-Turnschuhe direkt ab Fabrik, welche der junge Mann auf der Strasse für die Hälfte des Ladenpreises verhökert. Es sind keine Fälschungen, aber natürlich Schwarzimporte.
Katies Kinder schliessen den alten, hilfsbereiten Blake ins Herz. Das ist absolut nachvollziehbar. Dann wird es eine Spur melodramatischer: Er findet heraus, dass Katie trotz seiner Hilfe als Escort arbeitet, um wenigstens das Geld für das Allernötigste zusammen zu bekommen.
Die Rührmaschine rührt immer noch
«I, Daniel Blake» geht zu Herzen. Bei der Vorführung des Films am Filmfestival in Cannes im Mai 2016 erklärte die junge Dame im Sitz neben mir, sie habe noch keinen Loach-Film gemocht. Der sei ein Sozialist und das sei nicht mehr «very fashionable». Ihre Mutter habe seine Filme allerdings geliebt. Am Ende des Films sass sie heulend und schnuffelnd neben mir.
Am Realismus der von Loach und Laverty geschilderten Zustände wird niemand ernsthaft zweifeln. Die dramatische Konstruktion der Geschichte, die klassische Rührmaschine, ist allerdings in die Jahre gekommen. Was nicht heisst, dass sie nicht weiterhin sehr wirkungsvoll sein kann. Bloss ist unser Abwehrarsenal grösser geworden. Not very fashionable, Ken Loach. Aber very lovable.