«Es beginnt mit einem Traum», sagt Jamal, als der Film fast zu Ende ist. Sils-Maria, Hotel Waldhaus: Jamal, der Kahlkopf im Dokumentarfilm seines Cousins Samir, hat sich eben im Kreise der Verwandtschaft den Rohschnitt von «Iraqi Odyssey» angeschaut.
Wie soll der Irak eine Zukunft haben, wenn ihm die Mittelschicht fehlt, will Samirs Tante Samira von Jamal wissen. Er lebt in Moskau, sie ist aus Auckland angereist. Auch von ihrer Geschichte lebt «Iraqi Odyssey». Ein Land. Viele Fragen. Keine Antworten.
Von wem auch? Vier Millionen Iraker haben nach UNO-Schätzungen ihre Heimat verlassen. Auch Samirs Familie ist weg. Schon lange: Sie lebt seit den Wirren Ende der 1950er-Jahre in der Schweiz.
Der grosse Grossvater
Moskau, London, Auckland, Buffalo: Samir muss um die halbe Welt fliegen, um sich mit den Verwandten zu treffen, die vor der Kamera reden wollen. Über ihre verlorene Heimat. Das Heimweh. Manche wollen nicht reden, andere können nicht mehr.
Tante, Onkel, Cousin, Halbschwester oder Samir selbst aus dem Off: Wer aber in «Iraqi Odyssey» einmal zu reden anfängt, hört so schnell nicht wieder auf.
Im Zentrum ihrer Erinnerungen: Samirs liberaler und wohlhabender Grossvater, der seinen Kinder fast alles erlaubte – ausser sich einen Turban anzuziehen oder die Militäruniform.
Seine Nachkommen erzählen von Folter und Flucht. Krise und Kriegen. Von Exil und Embargo. Von Untergrund und Übermut. Von der Vergangenheit, Gegenwart und der Zukunft eines Landes, das am Boden liegt.
Rot sehen
Samir selbst erinnert sich an ein Bagdad, in dem einst dieselben roten Busse fuhren wie im mondänen London: «Bach-daad» spricht sich Iraks Hauptstadt im Arabischen.
Es ist nicht zu überhören: Da steckt ein «Ach!» drin, dass die Stadt nie zu der weltoffenen Metropole wurde, die sie einmal zu werden sich anschickte.
Das Drama eines Landes, detailreich nacherzählt am exemplarischen Fall einer privilegierten Familie, die ihrer politischen Aktivitäten wegen in Schwierigkeiten gerät: Das ist ein strapaziöses, ein ambitiöses Unterfangen. Und das dauert – im Kino fast drei Stunden.
«Kennen Sie Youtube?»
An seinem bisher persönlichsten Film habe er vielleicht sein Leben lang gearbeitet, sagt Samir am Rande der Berlinale 2015.
Allein die Archivarbeit: Samir hat Stunden und Tage in irakischen Ministerien gesessen. Er hat Tee getrunken. Und vergeblich gewartet. Da ist nichts, sagt ein Beamter dem enttäuschten Filmemacher. «Aber kennen Sie Youtube, Samir?»
Der Irak hat zuletzt nicht nur seine gut ausgebildete Mittelschicht verloren. Sondern auch seine Bildarchive. Ohne die grossartigen Fotos und Super 8-Filme aus Samirs Familienfundus wäre «Iraqi Odyssey» immer noch ein Jahrhundertfilm – buchstäblich. Aber nur halb so ansehnlich geworden.
Rauchzeichen
Bewegend: Wenn Samir das Familiengrab aufsucht und die Einschusslöcher an den Wänden abtastet. Berührend: Wie er mit einer Flasche Wasser die letzte Ruhestätte des Vaters reinigt.
Beklemmend: Wenn der spätere Diktator Saddam Hussein Zigarre rauchend die Namen von Mitgliedern seiner Baath-Partei vorliest und sie vor die Tür weist. Gleich dahinter werden sie erschossen.
Das Private, das Politische: Samir schneidet fast drei Stunden lang im Minutentakt das Eine neben das Andere, ohne je das Eine über das Andere zu stellen. Immer im Vordergrund steht die bedachte Erinnerungsarbeit der Verwandtschaft.
Das Lachen der Verzweifelten
«Iraqi Odyssey» ist bei aller Wehmut über eine verlorenes Land auch eine Feier des Erzählens. Und trotz aller Tragik ein vielstimmiges Gelächter. Der schwarze Humor, den seine Familie auszeichne, lächelt Samir in Berlin, könne nur in der Diaspora entstehen.
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Unsere irakische Odyssee, so wird Cousin Jamal ganz zum Schluss festhalten: Das ist ein Mosaik, das sich aus vielen kleinen Erzählbausteinen zusammensetzt.
Auch deshalb ist «Iraqi Odyssey» nach dem Abspann noch nicht zu Ende. Der Film geht im Internet weiter. Als interaktives Webprojekt.