Stehende Ovationen. Die Mitarbeiter der französischen Investment-Bank «Phenix» sind begeistert. Ihr Chef, da sind sich alle einig – ein Teufelskerl! Der neue, dynamische CEO hat sich in seiner Rede soeben charmant-unbescheiden als «moderner Robin Hood» geoutet und wird dafür gefeiert.
Während der Applaus im Hintergrund kein Ende nimmt, zeigt die Hauptfigur dem Kinopublikum sein wahres Gesicht. Den Blick direkt in die Kamera gerichtet sagt er, was er von seinen Mitarbeitern hält: «Alles grosse Kinder…», verkündet er herablassend. Unbedarfte Menschen, die sich leicht manipulieren lassen – von ihm, dem machthungrigen Narzissten.
Faszination und Abscheu
«Le capital» ist ein verstörender Film, der die Verfremdungseffekte eines Brechtschen Theaterstücks mit den Dramaturgiemustern eines konventionellen Hollywood-Thrillers vermischt. Mit erstaunlichem Effekt: Für die Zuschauer halten sich Faszination und Abscheu gegenüber dem charismatischen Finanzhai die Waage.
Dieses Phänomen kennen wir bereits von «Wall Street». Obwohl Regisseur Oliver Stone 1987 mit Gordon Gekko eine Hassfigur kreieren wollte, nahmen sich viele den schmierigen Börsenmakler zum Vorbild. Anders als Stone lässt Costa-Gavras seinen Abzocker nicht scheitern. Statt im Gefängnis landet sein fragwürdiger Held auf dem Chefsessel.
Umso verstörter wird das Publikum das Kino verlassen. Nach dem Film muss es sich unweigerlich fragen, mit was für einem Monster es fast zwei Stunden lang mitgefiebert hat.
Reiches Werk eines 80jährigen
Dies, obwohl die Haltung des Regisseurs jedem bekannt sein dürfte. Costa-Gavras – dieser Name steht seit über 40 Jahren für politisch-engagiertes, sozialkritisches Kino. Die französisch-algerische Koproduktion «Z», eine Abrechnung mit der griechischen Militärdiktatur, gewann 1970 zwei Oscars. In den 80er Jahren kamen ein Drehbuch-Oscar und die Goldene Palme für das US-kritische Politdrama «Missing» hinzu.
Der Finanz-Thriller «Le capital» ist bereits der 22. Spielfilm im Oeuvre des mittlerweile 80jährigen Griechen, der seit 1954 in Frankreich lebt und wirkt. Über die Qualität seiner jüngsten Regiearbeit scheiden sich jedoch die Geister.
Hauptdarsteller Gad Elmaleh polarisiert
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«Leser von Karl Marx‘ gleichnamigem Jahrhundertwerk werden enttäuscht sein», hält Frankreichs wichtigste Tageszeitung «Le Monde» beispielsweise ernüchtert fest. «Zu kaltherzig und doppeldeutig, um das grosse «Wall Street»-Publikum anzusprechen», findet der «Hollywood Reporter». Die auflagenstarke Film-Zeitschrift «Screen» empört sich über die ungewöhnliche Besetzung der Hauptrolle mit dem französischen Star-Komiker Gad Elmaleh: Das international noch relativ «unbeschriebene Blatt» sei auf der grossen Leinwand «eine Katastrophe» und habe auf dieser nichts verloren.
Zu einer ganz anderen Einschätzung kommt diesbezüglich die «Variety». Das führende Branchenmagazin zeigt sich tief beeindruckt von der «schieren Furchtlosigkeit», mit der Elmaleh die zwielichtige Figur verkörpere. Unterstützt von dieser Performance, erreiche Kinolegende Costa-Gavras mit seiner jüngsten Regiearbeit fast die hohe Qualität seiner besten Filme. Ein etwas gar euphorisches Urteil.
«Le capital» gehört eher zu den schwächeren Filmen in Costa-Gavras‘ Oeuvre. Doch was heisst das schon, angesichts des überragenden Niveaus seines Werks. Sehenswert ist seine lustvolle Sezierung des Raubtierkapitalismus allemal – gerade weil sie manchen Zuschauer zutiefst irritieren wird.