Zum Inhalt springen

Film & Serien Linklaters «Boyhood» wird die Herzen der Zuschauer erobern

39 Drehtage auf 12 Jahre verteilt. Eine schöne Idee, nicht ohne Risiko. «Boyhood» hat gestern auf der Berlinale Premiere gefeiert. Regisseur Richard Linklaters Film erzählt vom Erwachsenwerden. Eine Entwicklungsgeschichte von beispielloser Authentizität.

Die Story ist im Grunde ebenso universal wie banal. «Boyhood» zeigt die Teenager-Jahre eines Durchschnitt-Amerikaners. Der scheue Mason lebt zusammen mit der älteren Schwester bei seiner Mutter in Texas. Seinen Vater sieht er nur selten, seit sich dieser nach Alaska abgesetzt hat, um sein inneres Gleichgewicht wiederzufinden.

Ein abwesender Vater, der um die Liebe seiner Kinder kämpft – das ist nun wirklich nichts Neues. Dass die alleinerziehende Mutter zum Entsetzen ihrer Kids irgendwann einen Anderen heiratet, ist ebenfalls ein gängiges Plot-Muster. Trotzdem hat man als Zuschauer nie das Gefühl, einem seichten Familien-Schauspiel beizuwohnen.

Masons getrennte Eltern werden von Hollywood-Grössen verkörpert (Ethan Hawke und Patricia Arquette). Der Rest der starken Besetzung ist unbekannt. Noch. Zumindest zwei Namen sollte man sich merken: Hauptdarsteller Ellar Coltrane, der sich im Laufe der Jahre von einem soften Knaben in einen bärtigen Hipster verwandelt. Sowie Lorelei Linklater, die mit ihrer natürlichen Schlagfertigkeit für viele Lacher sorgt. Sie widerlegt damit das Vorurteil, dass sie die Rolle von Masons Schwester nur gekriegt hat, weil sie die Tochter des Regisseurs ist.

Ein Herzensprojekt gegen jede Vernunft

Drei dialogstarke Liebesgeschichten haben den Independent-Filmer Richard Linklater weltweit bekannt gemacht: «Before Sunrise» (1995), «Before Sunset» (2004) und «Before Midnight» (2013) mit Julie Delpy und Ethan Hawke als entzückend echt alterndes Leinwandpaar. Mit dieser Trilogie hat sich Linklater eine treue Fangemeinde erarbeitet.

Doch ausserhalb dieser Fangemeinde werden sich wohl nur wenige auf Anhieb für «Boyhood», einen zweieinhalbstündigen Film über einen unbekannten Teenager, begeistern können. Zumal die Kindheits-Chronik wegen ihres Anspruchs auch nicht wirklich ein Film für Jugendliche ist.

Vermarktungstechnisch fehlt «Boyhood» somit eine echte Zielgruppe. Geld verdienen lässt sich mit einer solchen Langzeitstudie also nicht. Aber Herzen erobern. Und das wird der Film. Ganz einfach, weil man spürt, wie viel Herzblut drin steckt.

Veränderungen finden nicht nur an der Oberfläche statt

Wer ein Projekt über zwölf Jahre plant, muss aus nüchterner Sicht eigentlich damit rechnen, dass es scheitert. Denn was passiert, wenn plötzlich ein Schauspieler abspringt? Allein schon Drehtermine zu finden, die allen passen ist ein organisatorisches Meisterstück. Ethan Hawke und Patricia Arquette sind in Hollywood schliesslich gefragte Leute. Und bei den Teenagern hätte die Begeisterung, in einem Kinofilm mitzuspielen, über die Jahre leicht verfliegen können. Nichts davon geschah – ob aus purem Glück oder wegen Linklaters Überzeugungskraft sei dahingestellt.

Dank der ungebrochenen Kontinuität freut man sich über jeden kleinen Zeitsprung, jeden kleinen Meilenstein in Masons Vita. Zum Beispiel, wenn über seinen Scarlett-Johansson-artigen Lippen plötzlich die ersten Barthaare spriessen. Der Wandel von Frisuren und Gesichtskonturen erinnert dabei ein bisschen an die vielen Youtube-Filme, die im Zeitraffer Alters- und Reifeprozesse dokumentieren. Nur die Geschwindigkeit ist in «Boyhood» eine ganz andere.

Regisseur Linklater ist nicht am raschen Effekt, sondern der nachhaltigen Wirkung seiner Bilder interessiert. Der 53-Jährige weiss, dass es dazu mehr als veränderte Oberflächen braucht. Statt schneller Schnappschüsse dominieren darum lange Einstellungen, die etwas über Masons wandelnden Charakter erzählen. Anders als ein Zeitraffer-Film macht «Boyhood» somit auch innere Verschiebungen sichtbar. Wesen und Optik der Figur verschmelzen dabei so sehr, dass man beinahe vergisst, dass es sich um einen Spielfilm handelt.

Von Harry Potter bis Barack Obama

Dokumentarisch mutet der Film auch deshalb an, weil er immer in der Zeit spielt, in der er aufgenommen wurde. Wie die meisten Kinder seines Alters steht Mason zum Beispiel stundenlang Schlange, um sich den neusten Harry-Potter-Band zu kaufen.

Jahre später unterstützt er den Wahlkampf von Präsidentschaftsanwärter Barack Obama, mit dem sich seine Generation besonders gut identifizieren kann. Und irgendwann läuft auch bei Mason nichts mehr ohne Smartphone. Nicht nur er hat sich über die Jahre verändert, sondern auch seine und unsere Lebenswelt.

All das erzählt «Boyhood» mit einer Beiläufigkeit, die kaum zu toppen ist. Nichts wirkt gestellt, kein einziger Handlungsbogen konstruiert. Nur ganz selten kippt die Teenager-Studie vom Natürlich-Alltäglichen ins allzu Belanglose. Doch selbst dann denkt man: Wie authentisch! Wenn ein Film das schafft, hat er das Prädikat «kleines Kinowunder» echt verdient.

Meistgelesene Artikel