Dieses Jahr findet das letzte Locarno Filmfestival unter der Leitung von Marco Solari statt. Der 79-Jährige mit Tessiner Wurzeln erzählt, warum das Tessin heute selbstbewusster ist und was es braucht, um jung zu bleiben.
SRF: Marco Solari, Sie sind als Präsident vom Filmfestival so etwas wie eine Visitenkarte des Festivals. Wird es schwierig, in Ihre Fussstapfen zu treten?
Marco Solari: Jeder Präsident, jede Präsidentin muss eine eigene Persönlichkeit haben. Es ist nie gut, wenn man jemanden imitieren will. Ich bin überzeugt, dass die Findungskommission die richtige Persönlichkeit findet, und die wird sich sicher nicht ein Beispiel an mir nehmen müssen.
Ist es aus Tessiner Sicht wichtig, dass Ihre Nachfolge ein Tessiner, eine Tessinerin wird?
Sagen wir es so: Es ist wichtig im Tessin, dass mein Nachfolger oder meine Nachfolgerin eine grosse Sympathie und Sensibilität für das Tessin hat. Was das Tessin ja immer will, ist ein Beweis von einer gewissen Sensibilität.
Sie sagten auch, ein Bundesrat aus der italienischsprachigen Schweiz ist wichtig, damit das Verständnis zwischen den Landesteilen weiter wächst. Gibt es seit den sechs Jahren von Bundesrat Cassis mehr Verständnis der deutschsprachigen Schweiz gegenüber der Südschweiz?
Es ist unabdingbar, dass ein italienisch denkender, sprechender, träumender Bundesrat im Gremium ist. Ich bin überzeugt, wenn ein italienischsprechender Bundesrat fehlt, fehlt ein wichtiges Element in unserem Land.
Das Tessin hat endlich den Komplex von 300 Jahren Landvogteibesitz abgestreift.
Wir politisieren im Tessin anders. Die Prioritäten sind anders, man denkt anders. In der Deutschschweiz ist man sehr konzis, im Tessin geht man eher in konzentrischen Kreisen auf das Problem zu, aber dafür ist die Lösung dann umfassender.
Sie sagen auch, dass es noch Mentalitätsunterschiede zwischen der Südschweiz und der Nordschweiz gibt.
Die wird es immer geben. Es gibt eine Nord-Süd-Grenze in Europa, bei der alles etwas anders ist.
Kann man das Verständnis füreinander verbessern? Es geht ja nicht darum, dass wir gleich sind, aber dass wir uns besser verstehen.
Es braucht auch immer wieder Leute, die für dieses Verständnis einstehen. Das Tessin ist nicht mehr das gleiche wie früher. Früher hat man immer gesagt: «Ah, das Tessin ist so nett und schön», man hat es etwas paternalistisch gesehen.
Die Deutschschweiz erkennt die Kraft vom Tessin an.
Heute hat das Tessin ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, auch dank der Kultur, der Universität, der Fachhochschule: Das sind alles Motoren eines neuen Tessins. Es hat endlich den Komplex von 300 Jahren Landvogteibesitz abgestreift und ist heute selbstbewusster. und ein selbstbewusstes, kräftiges Tessin ist auch für die ganze Schweiz gut.
Ich glaube, wir sind ein glückliches Land, weil die Deutschschweizer Mehrheit tolerant und aufnahmefähig ist. Sie sieht, dass das Tessin nicht nur ein Anhängsel ist, sondern sie erkennt die Kraft vom Tessin an.
Sie werden nächstes Jahr 80 Jahre alt. Sie haben einmal gesagt, uns allen rennt die Zeit davon. Von Gehetztsein merkt man Ihnen jedoch nichts an.
Man muss immer das Positive sehen und Sachen wegstecken können, verzeihen. Mich hat ein Gedicht von Fontane beeindruckt: «Immer enger, leise, leise / ziehen sich die Lebenskreise. / Schwindet hin, was prahlt und prunkt, / Schwindet hoffen, hassen, lieben, / Und ist nichts in Sicht geblieben / als der letzte dunkle Punkt.» Es ist alles relativ. Diese Ruhe muss man finden. Ich habe sie nicht immer im Alltag, aber grundsätzlich habe ich sie.
Das Gespräch führte Karoline Thürkauf.