Margrit Rainer wurde vom Publikum geliebt und verehrt. Eine Art Mutter der Nation, eine Mutter Helvetia. Privat soll das nicht anders gewesen sein. Nur Gutes können Weggefährten über sie berichten. Für Ines Torelli war Stupsi, wie Rainer von ihrem Umfeld genannt wurde, die einzige Freundin in der Branche.
Und um das Bild der Mutterikone zu komplettieren: Auf Margrit Rainers Herd soll immer ein Topf Suppe geköchelt haben. Nach Vorstellungsschluss durften sich die Kollegen einen Teller schöpfen.
Rainer war zu gut für ihre Rollen
Es gibt keinen einzigen Hinweis über Margrit Rainer, die das obige Bild relativieren könnten. Keinen einzigen! Sie stellte ihr Licht stets unter den Scheffel. Es gibt kaum Interviews mit ihr. Man weiss nicht, was sie über dieses oder jenes dachte.
Ganz im Unterschied zu ihrem häufigsten Film- und Bühnenpartner Ruedi Walter. Dieser trug sein Herz oft auf der Zunge und zeigte Ecken und Kanten – vor allem Journalisten gegenüber.
Doch wer diese Frau verehrt, und das tut der Schreibende, kommt nicht umhin, eine tragische Note in ihrer Karriere zu konstatieren. Die Tragödie resultiert nicht aus einem Mangel an schauspielerischem Talent, sondern dem puren Gegenteil.
Mutter oder Freak: Andere Rollen bekam sie nicht
Ihre Einzigartigkeit, ihre Brillanz, ihre Emotionalität und Natürlichkeit standen häufig im Widerspruch zur Qualität der Vorlagen, beziehungsweise den Rollen, die sie darin auszufüllen hatte. Das zeigt sich am deutlichsten in ihren Filmen. Rainer wurde zwar häufig besetzt, spielte neben den Gretlers, Hegetschweilers und Streulis aber höchstens die zweite Geige.
Sie hatte unter den Schweizer Filmregisseuren ihrer Zeit grob gesagt zwei Rollentypen auszufüllen. Für Kurt Früh war sie immer Mutter pur – von sanftmütig bis zu passiv aggressiv. Und Franz Schnyder besetzte Rainer in seinen Gotthelf-Adaptationen als Freak – mit Kind oder ohne.
Die Schauspielerin verkörpert diese Figuren – wie wohl von Schnyder nicht anders gewünscht – holzschnittartig, ins Groteske überzeichnet. In «Geld und Geist», dem schwächsten Gotthelf-Film, ist Rainer eine Bäuerin unter der Knute ihres Mannes (Max Haufler). Sie wirkt über weite Strecken hölzern, ähnlich wie der Rest der Besetzung. Bloss in einer einzigen Szene manifestiert sich ihr Können. Es ist ein rarer Moment, in dem aus einer eindimensionalen, vorübergehend eine abgründige Figur wird. Eiskalt und voller Hass.
Rainer sorgte für ganz grosse CH-Kinomomente
Margrit Rainer war eine so aussergewöhnliche Schauspielerin, dass sie aus mittelmässigen Drehbüchern lebendige, wahrhaftige Kinoerlebnisse machte. Wenigstens in den Momenten, wo sie auf der Leinwand erschien. Nirgends wird dies so deutlich wie in «Oberstadtgass» von Kurt Früh.
Mit einer anderen Schauspielerin als düsterer Briefträgersfrau wäre daraus wohl ein weiteres, süssliches Schaggi-Streuli-Vehikel mit einem stereotyp nörgelnden Huschi von Ehegattin geworden. Doch Rainer füllte ihre Nebenrolle auf eine Weise aus, dass sie «Oberstadtgass» dominierte – eng geführt von Kurt Früh, der Rainer und der Erarbeitung ihrer Szenen viel Zeit einräumte. Es entstand eine differenzierte, abgründige Frauenfigur, die nichts, aber auch gar nichts mit dem stereotypen Muetti der Nation zu tun hat
Unerhört: Margrit Rainer spielte nie eine Hauptrolle
Eigentlich unerhört: Mit «Oberstadtgass» war Margrit Rainer bereits auf dem Gipfel ihrer Filmkarriere angelangt. Was Stephanie Glaser spät schaffte – nämlich mit 86 – war ihr nie vergönnt: Die Hauptrolle in einem Schweizer Spielfilm zu kriegen.
Welch gewaltiges Potenzial in ihr steckte, wird bei den Grossaufnahmen des Rainerschen Gesichtes deutlich. Wenn die reuige Briefträgersfrau Frieda Jucker über die Bahnhofsbrücke in Oerlikon stürmt, wähnt man sich im Neorealismus, bei Vittorio de Sica oder Roberto Rossellini. Margrit Rainer ist in diesen Momenten im Weltkino angekommen, wo sie eigentlich hingehört hätte. Auf Augenhöhe mit Anna Magnani, Ingrid Bergman und Bette Davis.