Der Grund, warum die Geschichte des «Baby Reindeer» gerade vielen unter die Haut geht, liegt zum einen am grossartig geschriebenen Drehbuch, zum anderen auch an der Tatsache, dass die Dinge, die wir sehen, dem Autor und Hauptdarsteller Richard Gadd selbst passiert sind. Und diese Dinge sind verstörend.
Die etwas andere Stalking-Serie
Protagonist Donny ist ein erfolgloser Comedian, der in London als Barkeeper arbeitet. Eines Tages betritt Martha den Pub. Sie wirkt zutiefst traurig, Donny hat Mitleid mit der Frau und spendiert ihr ein Getränk.
Dieser kleine Akt der Zuneigung hat Folgen: Martha kommt nun jeden Tag in die Bar, bombardiert ihn mit Komplimenten, schreibt ihm unzählige E-Mails, wartet schliesslich Tag und Nacht vor seinem Haus.
Trotz Marthas übergriffigem Verhalten schafft es Donny nicht, sie abzuwehren. Auch wenn er Angst vor ihr hat: Martha fasziniert ihn. Endlich lacht jemand über seine Witze, gibt ihm die Aufmerksamkeit und Bestätigung, die er so sehr braucht.
Es ist eine Dynamik, die über ein klassisches Täter-Opfer-Narrativ hinausgeht. Die Stalkerin wird nicht als Monster dargestellt. Es ist klar, dass Martha an einer psychischen Krankheit leidet.
Verkörpert wird diese komplexe Rolle von der englischen Schauspielerin Jessica Gunning, die eindrücklich von schüchtern, unbeholfen, zu bedrohlich und angsteinflössend oszilliert.
Eine Geschichte über Selbstwert
Parallel zu Marthas Stalking verliebt sich Donny in die Transfrau Teri, kann aber nicht zu der Beziehung stehen. So benutzt er ihr gegenüber sogar einen falschen Namen und gerät immer tiefer in ein Lügenkonstrukt.
Das Ganze wird nicht nur mit einem rasanten Tempo erzählt, die Auswüchse von Donnys selbstzerstörerischem Verhalten bleiben dabei auch konstant unvorhersehbar.
Das ganze Chaos konfrontiert Donny schliesslich mit der Quelle seiner Probleme: Sein fehlender Selbstwert. Und wer ihm den geraubt hat, erfährt man in der vierten, wohl verstörendsten Folge: Donny wurde vor einigen Jahren von einem erfolgreichen TV-Produzenten manipuliert und missbraucht.
Tabuthema: Sexueller Missbrauch bei Männern
«Reindeer Baby» kann als einen wichtigen Beitrag zur Enttabuisierung von sexuellem Missbrauch bei Männern gesehen werden. Doch noch mehr ist die Serie eine genaue Dekonstruktion der weit reichenden Folgen von sexuellem Trauma und ein Beispiel davon, wie tief die daraus resultierende Scham jemanden in den Selbsthass treiben kann.
Das grosse Interesse an «Baby Reindeer» lässt sich aber auch damit erklären, dass die Serie noch weitere Themen verhandelt, die man auf Bildschirmen noch wenig gesehen hat. Die Beziehung eines Cis-Mannes zu einer Transfrau etwa, oder die Auswirkungen toxischer Männlichkeit auf die Psyche und die Sexualität.
Doch besonders macht die Serie der Umstand, dass Gadd seine eigene Geschichte so ehrlich und selbstreflektiert erzählt – und damit ist die Serie trotz aller Tragik zutiefst ermutigend.