Die allererste Einstellung des Films ist nur kurz, aber sie verrät schon viel: Zu sehen ist in Grossaufnahme eine hellrosa Socke mit einem Einhorn-Motiv. Die Socke steckt verrutscht am Fuss eines liegenden Kindes. Dessen Wade wiederum ist übersät mit blauen Flecken, und zudem beklebt mit einer Elektrode. Eine medizinische Untersuchung ist im Gang, und im Hintergrund surrt die Nadel des EKG-Druckers.
Der Oberkörper des Mädchens ist nackt. Diese kurzen Momente machen dem Publikum klar: Benni, kurz für Bernadette, ist mit ihren neun Lebensjahren noch weit von der Pubertät entfernt. In ihr schlummert ein Kleinkind, das gerne bei der Mama wohnen möchte. Aber das geht nicht: Die Mutter traut sich die Erziehung aus Sicherheitsgründen nicht mehr zu. Denn Benni ist eine Gefahr für ihr Umfeld, wenn sie austickt. Ihre Medikamentendosis wird erhöht.
Wut in alle Richtungen
Benni, eindrücklich verkörpert von der jungen Helena Zengel, braucht eigentlich Zuneigung, und das sagt sie auch offen – aber sie macht es ihrem Umfeld nicht einfach: Wenn etwas nicht passt, dann schreit, spuckt, flucht und haut Benni, dann schmeisst sie mit Gegenständen um sich. Sie droht einmal damit, sich etwas anzutun. Aber es kann auch passieren, dass sie einem anderen Kind mit einem gezielten Schlag die Nase bricht.
Das Drehbuch von «Systemsprenger» gibt keine klaren Antworten darauf, warum Benni so ist, wie sie ist. Hat sie ein traumatisierendes Kindheitserlebnis hinter sich? Wurde sie geschlagen oder missbraucht? Falls ja, erfährt man das nicht. Sie ist ein deutsches Mittelklassekind, aber jeglicher Begriff von Heimat ist ihr fremd: Pflegefamilien, Sonderschulen, betreute Wohngruppen, Kliniken – überall, wo Benni landet, fliegt sie wieder raus.
Ihr eigener Feind
«Benni ist die einzige Antagonistin im ganzen Film», sagt die Autorin und Regisseurin Nora Fingscheidt im Interview. «Niemand will dem Kind etwas Böses, und es ist auch nicht das böse, böse System, das Benni quält. Wir fürchten um ihrer selbst willen.» Damit erklärt die Filmemacherin indirekt auch, warum ihr Werk «Systemsprenger» so hervorragend funktioniert: Der Film erzählt seine Story ohne Anklage, ohne Kritik, ohne Schuldzuweisung. Und das macht ihn besonders berührend.
«Systemsprenger» bearbeitet sein Publikum auf eine geschickte Weise: In der ersten Hälfte weckt er den intensiven Wunsch bei den Zuschauenden, dass dieses aggressive und doch hilflose Wesen endlich einmal zur Ruhe kommen möge.
In der zweiten Hälfte gibt es dann klare Andeutungen darauf, dass dieser Wunsch in Erfüllung gehen könnte: Ein junger Anti-Gewalt-Therapeut findet einen direkten Draht zu ihr. Doch auch da beschönigt der Film nichts: Die schwindende berufliche Distanz zwischen den beiden ist bereits der nächste Sprengkörper im System.
«Systemsprenger» ist ein hochemotionaler Film, der sich nie mit einfachen Antworten begnügt. Grandios geschrieben, grandios inszeniert, grandios gespielt – und daher unbedingt sehenswert.