Emotion und Architektur: Auf diesen zwei grossen Eckpfeilern hat Regisseurin Virpi Suutari ihre Doku «Aalto» errichtet. Mit intimen Gefühlen geht’s dann auch gleich los. Genauer: mit einem Auszug aus Alvar Aaltos intimen Briefverkehr mit seiner Gattin Aino.
«Geliebte Aino. Marseille gehört zu den schrecklichsten Städten, die ich je gesehen habe. Eine junge Dame vom Kongress erwies sich als das einzige Rettungsboot in diesem Hafen. Natürlich wurde daraus eine kleine Liebesgeschichte. Allerdings eine ohne Risiken für Körper und Seele. Denn ich bin total verliebt in eine Frau namens Aino, die mich an sanften Stellen zu küssen pflegt.»
Wir lernen: Nicht nur in der Architektur, sondern auch im Privatleben pflegten die Aaltos progressive Ansichten. Freie Liebe und Gleichberechtigung stellten wichtige Ideale dar, denen beide nacheiferten. Wobei die Doku durchaus kritisch hinterfragt, wie glücklich die Aaltos dabei waren.
Meilensteine moderner Architektur
Unbestritten ist: In der Sphäre des Designs von Möbeln und Gebäuden zählen Alvar und Aino Aalto zu den Lichtgestalten des 20. Jahrhunderts. Das kongeniale Duo revolutionierte als fortschrittliches Künstlerpaar die Szene, die damals noch stärker als heute von Männern dominiert wurde.
Architekt Roland Hergert, den wir anlässlich des Filmstarts von «Aalto» interviewt haben, bestätigt dies. Er zählt den Namen Aalto in einem Atemzug mit Le Corbusier, Mies van der Roe und Frank Lloyd Wright auf.
Als Ikonen, welche den Baustil der Moderne am stärksten geprägt haben: «Alle vier haben Architektur so geprägt, dass sie von allen immer wieder zitiert wurden und immer noch zitiert werden. Gerade Aalto ist in der Architektur der Schweiz sehr, sehr oft zitiert worden.»
Aaltos Spuren in der Schweiz
Realisiert wurde hierzulande trotz grossem Einfluss und hohem Ansehen aber nur ein einziges Bauwerk Marke Aalto: Als krönender Abschluss des Luzerner Schönbühl-Quartiers, in dem das erste Schweizer Shopping-Center 1968 seine Tore eröffnet hatte.
Heute erstrahlt das Aalto-Hochhaus in neuem Glanz. Roland Hergert, der das Gebäude pünktlich zum 50-Jahr-Jubiläum renovieren durfte, weiss um dessen besondere Bedeutung:
«In den 1960er-Jahren waren Hochhäuser nicht so populär wie heute. Die Leute hatten Angst vor Verstädterung, Verschandelung der Landschaft. Der Name Aalto half dabei, die starke Opposition gegen alles Moderne zu brechen.»
Würdigung mit weiblichem Akzent
In Virpi Suutaris neuer Doku spielt die Schweiz freilich nur eine marginale Rolle. Dafür gelingt es ihr, den Modernismus der Aaltos auf den Punkt zu bringen.
Oder, um mit Roland Hergert Worten zu schliessen: «Herr und Frau Aalto war es wichtig, avantgardistisch und rational zu bauen. Die Verflechtung der Bauten mit der Natur und die menschlichen Bedürfnisse standen dabei stets im Zentrum.»
Eine ebenso zentrale Botschaft des Films ist die aktive Rolle, die Alvars zwei Frauen für die Entwicklung und Vermarktung des Labels Aalto gespielt haben. Aino (1894-1949) und Elissa (1922-1994) werden hier auf eine Art und Weise gewürdigt, die Alvar Aalto sicherlich gut gefallen hätte.
Kinostart: 22.4.2021