Buenos Aires, 1980. Der Mann am Empfang im Hotel ist höflich, spricht französisch mit dem französischsprachigen Gast. Aber als dieser ihm erzählt, dass es bei der Anreise im Stadtverkehr zu Verzögerungen gekommen sei, reagiert der Rezeptionist gereizt.
«Sie müssen verstehen, die Lage im Land war katastrophal. Wir brauchen diese Reformen.» Der Gast, ein Privatbankier auf Geschäftsreise, antwortet wissend: «Ich verstehe.»
Im Hintergrund: Staatsterror
Dieser kurze Dialog ist blanker Zynismus: Denn der Verkehr wurde nicht durch Baustellen behindert, sondern durch Polizeikontrollen. Die Militärjunta verhaftet auf offener Strasse Menschen und steckt sie in Geheimgefängnisse mit Folterkammern. So sehen diese Reformen aus.
Yvan De Wiel, der diskrete Banker, versteht das sehr wohl: Die politische Lage ist brenzlig. Aus diesem Grund hält er sich in Argentinien auf. Seine reichen und einflussreichen Kunden aus Politik, Industrie und dem Klerus suchen in gefährlichen Zeiten sichere Häfen für ihre Vermögenswerte. De Wiel kennt die lukrativsten Schlupflöcher.
Gespielte Höflichkeit
Ist das Geldwäscherei? Ist es Beihilfe zur Kapitalflucht? Solche Begriffe spielen keine Rolle. De Wiel macht einfach seinen Job, möglichst effizient.
Gewissensbisse hat er prinzipiell nicht. Aber er zweifelt insgeheim an seinem Können: Er ersetzt in Buenos Aires seinen spurlos verschwundenen Vorgänger, und dessen Fussstapfen scheinen gross gewesen zu sein.
«Azor» spielt in Hotels mit Swimming Pool, in teuren Restaurants, exklusiven Clubs mit Teppichböden und verrauchten Hinterzimmern. Viel Smalltalk, viel vorgespielte Höflichkeit, viele zweideutige Sätze, von denen man nicht weiss, ob das jetzt Komplimente sein sollen oder womöglich Warnungen.
Mit doppelter Zunge
Andreas Fontana erklärt: «Die Figuren reden über irgendetwas, über ihre Ferien in Gstaad, über den Ort, wo ihre Kinder zur Schule gehen. Aber in Wirklichkeit prüfen sie ihr Gegenüber haargenau: Sie wollen herausfinden, ob die Person auf der Höhe ist; ob man ihr vertrauen kann. Deshalb sagen sie oft das eine, meinen aber etwas ganz anderes.»
Fontana hat für sein Drehbuch lange recherchiert. Er hat sich von allerlei Insiderinnen und Insidern die Codes, die Verhaltensweisen und die subtilen Strategien schildern lassen, die solche Finanztransaktionen begleiten. Enorm viel von diesem Wissen hat er in den Film eingebaut. Manchmal hemmen diese zahlreichen Details den Handlungsfluss.
Am Geld klebt Blut
Die – frei erfundene – Handlung ist an Joseph Conrads klassische Erzählung «Heart of Darkness» angelehnt. Der Banker De Wiel dringt tiefer und tiefer in dieses Dickicht aus Vertuschungen ein. Am Schluss des Films wird offenbar, was man ohnehin vermutet hat: An diesem Geld klebt Blut.
Wer von «Azor» einen Thriller erwartet, wird vermutlich enttäuscht: Der Film läuft nicht auf einen spannenden Höhepunkt hinaus, sondern unterstreicht zum Schluss nochmals, wie banal das Böse doch eigentlich ist.
Elegante Käuflichkeit
Aber der Weg zu dieser etwas plumpen Enthüllung ist faszinierend: «Azor» ist in seinen besten Momenten ein grossartiger, fast melancholischer Film über Gier, Doppelmoral und Käuflichkeit. Die Eleganz und Sorgfalt, mit der Fontana von all diesen niederen Trieben erzählt wird, ist einzigartig.
Kinostart: 07.10.2021