«Niemand ist niemand» – jeder Mensch hat Bedeutung. Diese Haltung realisiert Regisseurin Andrea Arnold in ihrem neusten Film. «Bird» widmet sich dem Leben junger Engländerinnen und Engländer, die am Existenzminimum leben. So auch Bailey, deren Leben von Perspektivlosigkeit geprägt ist.
Zwischen Graffitis und Gangs
In Gravesend, einer trostlosen Kleinstadt östlich von London, steht die zwölfjährige Bailey an einem Geländer. Sie beobachtet durch Gitterstäbe hindurch Vögel beim Fliegen. Diese stille Szene liefert den Auftakt zum Film. Doch sie endet abrupt, als ihr kindsköpfiger Vater Bug, gespielt von «Saltburn»-Star Barry Keoghan, auf einem E-Scooter angerollt kommt. Widerwillig steigt Bailey auf, und die beiden fahren – untermalt von rotzigem Post-Punk – durch die Strassen Gravesends.
Zuhause angekommen, in einem halb verfallenen Haus, das von Graffitis überzogen ist, verkündet Bug, dass er noch diese Woche seine neue Freundin heiraten will. Völlig entsetzt sucht Bailey Trost bei ihrem 16-jährigen Halbbruder Hunter.
Doch der ist mehr mit den krummen Geschäften seiner Gang und der Schwangerschaft seiner Freundin beschäftigt. Bailey fühlt sich einmal mehr isoliert in ihrem Unmut – bis sie auf einen sonderbaren jungen Mann trifft.
Auf einer Wiese begegnet sie Bird. Er erklärt ihr, dass er auf der Suche nach seiner Familie ist, und sie entschliesst sich, ihm zu helfen.
Unverblümt, bitter – und albern?
«Bird» gleicht thematisch anderen Projekten Arnolds, die sich mit den Schwierigkeiten junger Menschen und dem Leben am Existenzminimum auseinandersetzen. Bereits «Fish Tank» (2009) und «American Honey» (2016) – beide mit dem Preis der Jury in Cannes ausgezeichnet – zeigten unverblümt und manchmal bitter die Probleme von Menschen, die versuchen, irgendwie erwachsen zu werden.
Auch in «Bird» berühren und schaudern einen die Bilder der prekären, gewaltvollen Verhältnisse, in denen die Jugendlichen aufwachsen. Bemerkenswert ist dabei die schauspielerische Leistung von Newcomerin Nykyia Adams in der Rolle von Bailey.
Trotz der ernsten Themen, die der Film mit nötigem Respekt behandelt, ist er witzig und albern. Beispielsweise als sich herausstellt, dass Vater Bug seine Hochzeit bezahlen möchte, in dem er das halluzinogene Sekret eines Froschs verkauft. Bug und seine toughen Jungs besingen den Frosch mit schnulzigen Balladen wie Coldplays «Yellow», damit der Frosch sich möglichst wohlfühlt und das Sekret absondert.
Der Zauber der Wirklichkeit
Was «Bird» aber besonders macht, ist sein magischer Realismus. Der Film lässt die Grenzen des Wirklichen und des Magischen langsam ineinanderfliessen. Diese Magie wird von der Figur des Bird verkörpert. Mit seiner sanften, mystischen, aber doch skurrilen Art vermittelt er Bailey eine Ruhe, die ihr zuvor fremd war. Durch ihn geschehen Dinge, die nicht echt sein können.
Die Übergänge zu diesen magischen Szenen sind manchmal absurd und auch etwas irritierend. Wenn man es aber als Zuschauerin schafft, das Bedürfnis nach purem Realismus abzulegen, zieht einen der emotionale Effekt dieses Zaubers in den Bann.
Ernst, albern und magisch zugleich – Andrea Arnold ist mit «Bird» eine mitreissende Coming-of-Age-Geschichte gelungen. Mit Charakteren, die einem ans Herz wachsen. Und selbst Tage später bleibt einem der punkige Soundtrack im Ohr.
Kinostart: 9. Januar 2025