Bereits ganz zu Beginn macht dieser Film klar, dass er mehr sein will als eine gewöhnliche Doku über den Architekturgiganten: «Mein Vater Ludwig Mies nannte mich Muck, weil er sich eigentlich einen Sohn gewünscht hätte», erklärt Protagonistin Georgia.
Sofort ahnen wir: «The Mies van der Rohes» ist ein Porträt der ganzen Familie Mies van der Rohe – mit besonderer Berücksichtigung ihrer weiblichen Mitglieder.
«In den Goldenen Zwanzigern gehörte mein Vater bald zur Elite der Modernen», fährt Georgia eloquent fort: «Doch der Name Mies klang nach miesem Wetter oder nach miesem Charakter. Damit konnte man nicht berühmt werden.»
Darum habe ihr geschäftstüchtiger Papa kurzerhand den Namen seiner Mutter hinzugefügt und diesen mit einem niederländischen Adelsprädikat verbunden. So wurde aus dem einfachen Deutschen ein vornehmer Mann von Welt, der als Ludwig Mies van der Rohe zu einem der bekanntesten und bedeutendsten Architekten der Moderne avancieren sollte.
Familiensaga aus weiblicher Sicht
Für die minimalistische Architektur des genialen Hochstaplers interessiert sich die Schweizer Regisseurin Sabine Gisiger in ihrem Dokumentarfilm nur am Rande. Stattdessen wirft sie das Scheinwerferlicht auf die wichtigsten Frauen im Leben des Freigeists, der von 1930 bis 1933 das Bauhaus in Dessau leitete. Allen voran auf Tochter Georgia, die 2001 ihre Memoiren veröffentlichte.
Aber auch Gattin Ada und Liebhaberin Lilly Reich räumt die Dokumentation viel Raum ein, wie Gisiger unterstreicht: «Mich haben ihre Briefe, Testamente und Tagebücher interessiert, weil sie eben einen sehr intimen Blick erlauben, wie die Frauen damals gedacht und gefühlt haben. Im Dunstkreis eines Mannes, der sich nicht für sie interessiert hat.»
Als Ludwig Mies van der Rohe 1938 in die USA emigriert, müssen sich Ada, Georgia und ihre Schwestern auf sich allein gestellt durch die Nazizeit kämpfen. Das Filmpublikum erfährt dies alles vermeintlich aus erster Hand: Schliesslich gibt Tochter Georgia in einem Leitinterview geduldig Auskunft.
Fiktives Interview als roter Faden
Nur wer gut aufgepasst und alle Tafeln im Film gelesen hat, weiss: Georgia van der Rohe ist bereits 2008 verstorben. Die Frau, die hier spricht, ist Schauspielerin Katharina Thalbach, die im fiktiven Interview ausschliesslich authentische Zitate wiedergibt.
Filmemacherin Sabine Gisiger verteidigt diesen Kunstgriff so: «Ich dachte einfach, dass es wichtig ist, dass man sich mit einer Person identifizieren kann. Damit der Film nicht nur aus Archivbildern und aus Aussagen aus Briefen besteht.»
Die Rechnung geht auf: «The Mies van der Rohes» ist dank Thalbachs Performance herrlich unterhaltsam. Die Dokumentation beweist, wie leichtfüssig Kulturgeschichte mit feministischem Twist sein kann.
Oder, um mit Sabine Gisigers Worten zu enden: «Das ist ein anderer Blick auf die Geschichte. Es heisst ja nicht zufällig History: his story, seine Story. Aber was mich interessiert, ist her story, ihre Geschichte.»
Kinostart «The Mies van der Rohes»: 2. März 2023