«Unser Sohn ist ein Gigolo. Und unsere Tochter trinkt zu viel». Das bemerkt der frisch pensionierte Peter (Stefan Kurt) gegenüber seiner Frau Alice (Esther Gemsch) am Schluss der grossen Feier mit Familie und Freunden. Grinsend schiebt er nach: «Nümm üsses Problem!»
Nicht nur darin täuscht sich Peter. Auch sonst beginnen die goldenen Jahre anders, als er sich das vorgestellt hat. Kaum hat er es sich auf dem Sofa bequem gemacht, kommt seine Frau mit dem Staubsauger an und erklärt, dass sie sich die Hausarbeit nun ab sofort teilen würden.
Klischees inklusive Kreuzfahrt
Es liegt nicht nur an Stefan Kurts Papa-Moll-Schnauz, wenn ich mich als Zuschauer erst mal in einer braven Schweizer Klischee-Komödie wähne. Regissuerin Barbara Kulcsar und ihr Kameramann Tobias Dengler nehmen die falschen Fährten von Petra Volpes Drehbuch dankbar auf.
Bunte Farben, enge Bildausschnitte, enge Nachbarschaft und die Idee, sich mit einer von den Kindern geschenkten Kreuzfahrt erst mal ins neue Leben einzustimmen, schnüren einem die Brust zusammen.
Affären und die Angst vor dem Ende
Aber dann ist es Magalie, die Nachbarin und beste Freundin von Alice, die auf einer kleinen Wanderung der Frauen einen Herzinfarkt erleidet. Das stürzt Alice in eine doppelte Existenzkrise. Denn sie erfährt auch, dass ihre Freundin seit 15 Jahren eine Affäre in Frankreich hatte, von der sie ihr nie erzählt hatte.
Peter wiederum wird vor lauter Schreck zum Vegetarier und Fitnessfanatiker und fordert aus Mitleid (und zu Alices Entsetzen) auch noch den verwitweten Freund Heinz (Ueli Jaeggi) auf, sie auf die Kreuzfahrt zu begleiten.
Nun öffnen sich die Bilder des Films, die emotionalen Schleusen, die verdrängten Wünsche und der Frust einer erstarrten Ehe nacheinander wie kleine Blüten am stacheligen Stamm eines Kaktus. In die Komik des verlegenen Biedersinns mischen sich Wut und revolutionäre Ideen.
Neustart nach der Pensionierung
Das Drehbuch von Petra Volpe («Die göttliche Ordnung») feuert eine Überraschung nach der anderen ab. Den Figuren brechen zuerst ihre Gewissheiten weg und dann ihre Beziehungspläne. Das spiegelt sich auch in den Beziehungskonstruktionen ihrer Kinder.
Bis die Alten sich an Neues wagen, alte Zöpfe (beziehungsweise Schnäuze) abschneiden und Ideen entwickeln, wie sie sich gemeinsam eine andere Zukunft bauen könnten. Das funktioniert als Film täuschend leichtfüssig.
Einerseits, weil Esther Gemsch, Stefan Kurt und Ueli Jaeggi es schaffen, ihre Figuren über das erwartbare Klischee hinaus mit Glaubwürdigkeit und persönlicher Tragik zu beleben. Andererseits, weil Barbara Kulcsar den zunehmend überraschenden Wendungen von Petra Volpes Drehbuch vor allem zu Beginn des Films mit betont braver Dramaturgie den Weg bereitet.
Einfach erstklassig
Wenn Freundin Magalie auf dem Wanderweg zusammenbricht, entspricht der darauffolgende Schnitt auf die Abdankungsfeier in der Kirche der einfachsten Fernsehmontage. Das Publikum fühlt sich auf der sicheren Seite, wie der eben pensionierte Peter – und kommt dann mit ihm auf hoher See so richtig auf die Welt.
«Die goldenen Jahre» sind erstklassiges Handwerk auf jeder Ebene. Einfach, effizient und schliesslich überraschend ermutigend.
Kinostart: 27. Oktober 2022