Drei Stunden dauert der Film, den Regisseur Ryūsuke Hamaguchi aus Muakamis Kurzgeschichte gemacht hat. Und keine dieser 179 Minuten ist zu viel.
Die ersten vierzig Minuten sind Prolog: Sie erzählen das Leben und die Beziehung des Theaterregisseurs und Schauspielers Yūsuke und seiner Frau Oto, einer Fernsehautorin.
Wir sehen, wie Oto die Geschichten für ihre TV-Dramen beim ehelichen Sex fantasiert – und sie sich später von Yūsuke wieder erzählen lässt. Wir erfahren, dass die zwei ein Kind verloren haben, dass sie mit jungen Fernsehstars fremd geht, dass er es weiss und nichts sagt. Wir schauen zu, wie sie ihm Theaterstücke auf Kassette aufnimmt, die er im Autoradio seines geliebten, knallroten Saab hört. Schliesslich stirbt Oto an einem Hirnschlag.
«Onkel Wanja» von Japanisch bis Schweizerdeutsch
Zwei Jahre später fährt Yūsuke in seinem roten Auto für ein Engagement nach Hiroshima. Im Gepäck Tschechows Stück «Onkel Wanja» und seine noch immer unverarbeiteten Gefühle von Trauer, Eifersucht und Schuld.
Yūsuke inszeniert «Onkel Wanja» wie alle seine Stücke vielsprachig. Manche Schauspieler sprechen Japanisch, andere Mandarin, Philippinisch – und einmal sogar Schweizerdeutsch: «Mach dr Hahne zue, Waffelchopf!»
In minutenlangen Szenen werden die gemischtsprachigen Leseproben für Tschechows «Onkel Wanja» gezeigt: Es ist minutiöse Arbeit am Text, bei der sich die einzelnen Schauspielerinnen und Schauspieler gar nicht verstehen.
Was jenseits von Sprache passiert
Unglaublich vieles gäbe es zu erzählen über diesen Film, so vieles geschieht, Beziehungsnetze entstehen langsam, kleine Szenen und Momente werden im Rückblick gross und wichtig.
Aber eigentlich möchte man lieber schweigen über «Drive My Car». Das passt zu diesem Film, der ein wunderbares Paradox ist: ein Film über Sprache, über Textarbeit. Und gleichzeitig eine Erzählung darüber, dass das Wesentliche jenseits aller Sprachen passiert.
Das macht Yūsuke mit seiner babylonisch-vielsprachigen Inszenierung von «Onkel Wanja» erfahrbar – erfahrbar im wahrsten Sinne des Wortes: Denn sehr viel Zeit verbringt Yūsuke in seinem Auto – zusammen mit der jungen Misaki, die ihm vom Festival als Fahrerin aufgedrängt wurde. Wie er trägt auch sie Trauer, Schuld und Verzweiflung in sich. Das Auto wird für Fahrerin und Regisseur zum geschützten Raum.
Kino, das direkt in die Seele geht
Auf den vielen langen Fahrten über Küstenstrassen und durch die Stadt, entwickelt sich langsam, ohne viel Text, eine Vertrautheit, die dazu führt, dass sich schliesslich beide ihrem Schmerz und ihrer Schuld öffnen können.
Dann sind die drei Stunden «Drive My Car» um – und man möchte eigentlich noch ewig weiter zuschauen bei diesem zärtlichen Kino: etwa dem ganz leisen Moment, wenn eine Schauspielerin in koreanischer Zeichensprache den Schlussmonolog von Tschechows Onkel Wanja spielt. Diese Szenen gehen unter die Haut und direkt in die Seele. Schöner könnte das Kinojahr 2022 nicht beginnen.
Kinostart: 6.1.2021