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Filmredaktor Michael Sennhauser über «Shoplifters»
Aus Kontext vom 13.12.2018. Bild: Cineworx
abspielen. Laufzeit 18 Minuten 13 Sekunden.

Neu im Kino Ein Herzens-Manipulator hat sein Werk perfektioniert

Hirokazu Kore-eda hat mit «Shoplifters» die goldene Palme gewonnen. Der Film des Japaners überrascht und rüttelt auf.

Es ist offensichtlich, dass in der ersten Szene von «Shoplifters» ein eingespieltes Team am Werk ist. Vater Osamu geht mit Sohn Shota im Supermarkt auf Einklautour: Beobachten, signalisieren, ein kleines Fingerritual von Shota – und schon ist eine weitere Packung Nudeln im Rucksack verschwunden.

Auf dem Heimweg stossen sie wieder auf das kleine Mädchen Juri, das Osamu schon mehrfach in der Kälte hat frieren sehen. Er beschliesst, sie zum Aufwärmen mitzunehmen.

Doch die winzige Wohnung ist mit fünf Menschen bereits völlig überfüllt. Osamu wird deshalb von seiner Frau erklärt: «Das ist kein Obdachlosenheim hier.»

Video
Ausschnitt aus «Shoplifters»
Aus Kultur Extras vom 20.05.2018.
abspielen. Laufzeit 1 Minute 3 Sekunden.

Eine eigene Kino-Gattung

Kore-eda und seine japanischen Familiengeschichten sind spätestens seit «Nobody Knows» von 2004 eine eigene Kino-Gattung. Damals ging es um das Überleben und Sterben von Geschwistern in einer Wohnung nach dem Tod der Eltern. Seither haben die meisten seiner Filme einen weitaus heitereren Grundton.

Was Kore-eda meisterhaft beherrscht sind die kleinen Nuancen, die Herzlichkeit und den versteckten Schmerz in Familiengefügen herauszuarbeiten.

Ein Mann in Anzug mit freudigem Lachen hält eine Schachtel, in der ein goldenes Blatt liegt.
Legende: Hirokazu Kore-eda mit seiner goldenen Palme. Keystone

Nah am Kitsch

Wenn Kore-eda auf der Höhe seiner Kunst ist, ist er auch immer ganz nahe beim Kitsch: bei jener Sentimentalität, der sich ein Regisseur nur nähern darf, wenn er sich seiner Sache absolut sicher ist.

Kore-eda ist jedes mal absolut sicher – und etwas darüber hinaus. Mit «Shoplifters» mehr denn je.

Eine sechsköpfige Familie sitzt lachend vor einem Haus
Legende: Kore-eda geht mit seinem Familienporträt an die Kitschgrenze – und noch etwas weiter. Cineworx

Die seltsame Familie wächst

Es ist eine seltsame, fröhliche, etwas ungehobelte Familie, die sich in dieser ärmlichen Wohnung durchschlägt. Die Grossmutter, die hin und wieder unwirsch den Satz fallen lässt, dass sie ja alle nur hier seien, um von ihrer Pension zu profitieren.

Die ältere Tochter, die als einzige und auf Anordnung der Grossmutter nichts von ihrem Verdienst an die Gemeinschaft abgeben muss.

Der Sohn, der Mühe bekundet, den Vater als Vater anzusprechen. Und das kleine Mädchen, das von einer Sekunde zur anderen die fünf als neue Familie adoptiert – was nicht allzu sehr erstaunt, nachdem die Grossmutter die Schlag- und Brandmale auf ihrem winzigen Körper entdeckt hat.

Alltagsgeschichten, liebevoll geschildert

Kore-Eda schildert den Alltag im japanischen Prekariat mit liebevoller Präzision. Die Arbeit von Osamu auf Baustellen, jene von Nobuyo in einer Reinigung. Akis eher exotische Arbeit als Kabinen-Animiermädchen in einer sehr fürsorglichen Umgebung.

Ein Mann, eine Frau und ein Kind liegen auf Kissen am Boden und stellen mit ihren Händen Schmetterlinge dar.
Legende: «Shoplifters» zeigt eine seltsame, fröhliche Familie. Cineworx

Schliesslich fahren alle sechs für einen fröhlichen Tag an den Strand und man reibt sich langsam die Augen über das ganze Idyll. Ja, sie sind alle da, die kleinen Zwischentöne, die Ungereimtheiten, die seltsam fragenden Momente in dieser Familie.

Aber über allem liegt Zuwendung und Rücksicht bis zu einem Grad, der einen zumindest im Kino leicht misstrauisch macht. Und natürlich weiss das dieser Regisseur. Und er setzt genau, gezielt und präzise darauf.

Ein Mann und ein junge stehen in einem Laden. Der Mann steckt sich unauffällig etwas in die Jackentasche
Legende: Die «Shoplifters» beim Werk: Vater Osamu mit Sohn Shota beim Klauen im Supermarkt. Cineworx

Ein meisterhafter Herzens-Manipulator

Hirokazu Kore-eda hat mit «Shoplifters» seine Kunst noch einmal verfeinert, gesteigert und perfektioniert. Er geht nicht nur bis an die Kitschgrenze und darüber hinaus, er erreicht tatsächlich und überraschend die Schmerzgrenze.

Das ist ein Film, der nachklingt, der überrascht und unerwartet aufrüttelt. Dieser Regisseur ist ein gewiefter Herzens-Manipulator. Und dieses Mal nimmt er keine Rücksicht.

Kinostart: 13.12.2018

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