Es ist offensichtlich, dass in der ersten Szene von «Shoplifters» ein eingespieltes Team am Werk ist. Vater Osamu geht mit Sohn Shota im Supermarkt auf Einklautour: Beobachten, signalisieren, ein kleines Fingerritual von Shota – und schon ist eine weitere Packung Nudeln im Rucksack verschwunden.
Auf dem Heimweg stossen sie wieder auf das kleine Mädchen Juri, das Osamu schon mehrfach in der Kälte hat frieren sehen. Er beschliesst, sie zum Aufwärmen mitzunehmen.
Doch die winzige Wohnung ist mit fünf Menschen bereits völlig überfüllt. Osamu wird deshalb von seiner Frau erklärt: «Das ist kein Obdachlosenheim hier.»
Eine eigene Kino-Gattung
Kore-eda und seine japanischen Familiengeschichten sind spätestens seit «Nobody Knows» von 2004 eine eigene Kino-Gattung. Damals ging es um das Überleben und Sterben von Geschwistern in einer Wohnung nach dem Tod der Eltern. Seither haben die meisten seiner Filme einen weitaus heitereren Grundton.
Was Kore-eda meisterhaft beherrscht sind die kleinen Nuancen, die Herzlichkeit und den versteckten Schmerz in Familiengefügen herauszuarbeiten.
Nah am Kitsch
Wenn Kore-eda auf der Höhe seiner Kunst ist, ist er auch immer ganz nahe beim Kitsch: bei jener Sentimentalität, der sich ein Regisseur nur nähern darf, wenn er sich seiner Sache absolut sicher ist.
Kore-eda ist jedes mal absolut sicher – und etwas darüber hinaus. Mit «Shoplifters» mehr denn je.
Die seltsame Familie wächst
Es ist eine seltsame, fröhliche, etwas ungehobelte Familie, die sich in dieser ärmlichen Wohnung durchschlägt. Die Grossmutter, die hin und wieder unwirsch den Satz fallen lässt, dass sie ja alle nur hier seien, um von ihrer Pension zu profitieren.
Die ältere Tochter, die als einzige und auf Anordnung der Grossmutter nichts von ihrem Verdienst an die Gemeinschaft abgeben muss.
Der Sohn, der Mühe bekundet, den Vater als Vater anzusprechen. Und das kleine Mädchen, das von einer Sekunde zur anderen die fünf als neue Familie adoptiert – was nicht allzu sehr erstaunt, nachdem die Grossmutter die Schlag- und Brandmale auf ihrem winzigen Körper entdeckt hat.
Alltagsgeschichten, liebevoll geschildert
Kore-Eda schildert den Alltag im japanischen Prekariat mit liebevoller Präzision. Die Arbeit von Osamu auf Baustellen, jene von Nobuyo in einer Reinigung. Akis eher exotische Arbeit als Kabinen-Animiermädchen in einer sehr fürsorglichen Umgebung.
Schliesslich fahren alle sechs für einen fröhlichen Tag an den Strand und man reibt sich langsam die Augen über das ganze Idyll. Ja, sie sind alle da, die kleinen Zwischentöne, die Ungereimtheiten, die seltsam fragenden Momente in dieser Familie.
Aber über allem liegt Zuwendung und Rücksicht bis zu einem Grad, der einen zumindest im Kino leicht misstrauisch macht. Und natürlich weiss das dieser Regisseur. Und er setzt genau, gezielt und präzise darauf.
Ein meisterhafter Herzens-Manipulator
Hirokazu Kore-eda hat mit «Shoplifters» seine Kunst noch einmal verfeinert, gesteigert und perfektioniert. Er geht nicht nur bis an die Kitschgrenze und darüber hinaus, er erreicht tatsächlich und überraschend die Schmerzgrenze.
Das ist ein Film, der nachklingt, der überrascht und unerwartet aufrüttelt. Dieser Regisseur ist ein gewiefter Herzens-Manipulator. Und dieses Mal nimmt er keine Rücksicht.
Kinostart: 13.12.2018