Der 33-jährige Schwimmlehrer Rubens (Daniel de Oliveira) hat einen seiner Schüler während des Unterrichts auf die Wange geküsst – angeblich zum Trost. Das sechsjährige Scheidungskind, das in Tränen ausgebrochen sei, habe ihm leidgetan, wird Rubens seiner Chefin erzählen.
Diese will ihrem charmanten Angestellten gerne glauben. Doch die Sache liegt längst nicht mehr in ihrem Ermessen.
Kuss ohne Kamera
Die Mutter des Jungen vermutet einen sexuellen Übergriff. Sie startet einen Aufruf im Elternchat, um die Schwimmschule zur Verantwortung zu ziehen.
Der Vater schaltet die Polizei ein. Ein eifersüchtiger Arbeitskollege schwärzt den Schwimmlehrer an.
Dabei wirkt Rubens durchwegs aufrichtig, wenn er seine Unschuld beteuert. Allerdings macht es uns Regisseurin Carolina Jabor nicht leicht, ihm zu glauben.
Zufall oder nicht?
Dass der Kuss just in dem Teil der Badeanstalt stattfand, der nicht videoüberwacht ist, mag ein unglücklicher Zufall sein. Aber wie kommt die Badehose des Jungen in Rubens' Spind?
Gegen den Verdacht spricht die Tatsache, dass Rubens eine Freundin hat. Aber sie ist erst 19 Jahre alt und eine ehemalige Schülerin. Noch ein Zufall?
In der Schwebe
«Liquid Truth» hält den Zweifel an der Redlichkeit seiner Figuren gekonnt in der Schwebe. Auch die übrigen Protagonisten stehen im Zwielicht: Die Mutter des angeblichen Missbrauchsopfers schürt den medialen Hass auf den Schwimmlehrer mit verbissener Selbstgerechtigkeit.
Der abwesende Vater will seine Männlichkeit rehabilitieren, indem er einen Schuldigen findet. Und Rubens’ Chefin sorgt sich mehr um den Ruf ihrer Schule als um das Wohl der Kinder.
Im digitalen Echoraum
Anders als in Thomas Vinterbergs thematisch ähnlichen Drama «Die Jagd» bleibt der Beweis für Rubens’ Schuld oder Unschuld aus. Sein Wort steht gegen das des Kindes, das behauptet, der Lehrer habe ihn auf den Mund geküsst.
Doch die von der Mutter lancierte Vorverurteilung auf Facebook und WhatsApp ist gnadenlos. Im digitalen Echoraum der sozialen Medien wird die Anschuldigung übermächtig und wächst sich für den Schwimmlehrer zu einer existentiellen Bedrohung aus.
Ein offenes Ende
Die «flüssige Wahrheit», wie der englische Filmtitel übersetzt lautet, ist ein trübes Wasser. Wie jede Flüssigkeit geht auch diese tückische Wahrheit den Weg des geringsten Widerstandes – durch die weit geöffneten Schleusen der sozialen Medien.
Das macht «Liquid Truth» über seine Missbrauchsthematik hinaus beklemmend aktuell. Das Drama hat ein offenes Ende – wie das globale Experiment mit der Verbreitung von Information und Desinformation auch.
Kinostart: 22. November 2018