Ennio Morricone liegt auf dem Boden seines Schreibzimmers und macht Gymnastikübungen. Um ihn herum stapeln sich Partituren, Filmplakate und Zeitungsausschnitte. Plötzlich steht er auf, notiert ein paar Noten. Dann beginnt er, ein imaginäres Orchester zu dirigieren.
Ennio Morricone sei ein rätselhafter Mensch gewesen, findet der italienische Cantautore Gino Paoli. Die 2021 verstorbene Regisseurin Lina Wertmüller sagt: «Morricone war verrückt.»
Hassliebe zur Trompete
Für seinen Dokumentarfilm «Ennio Morricone – Il Maestro» hat der Regisseur Giuseppe Tornatore viele weitere Weggefährten und Zeitzeuginnen interviewt. Auch mit Morricone selbst konnte er noch sprechen, bevor dieser 2020 starb. Sehr persönlich erzählt der Komponist im Film seine Geschichte, die 1928 in Rom beginnt.
Morricone wächst in einfachen Verhältnissen in einem musikalischen Elternhaus auf. «Ich wollte eigentlich Arzt werden. Aber mein Vater sagte: ‹Nein, er wird Trompeter.›»
Am Conservatorio di Musica Santa Cecilia in Rom studiert Morricone Chormusik und Komposition bei Goffredo Petrassi, der als einer der einflussreichsten italienischen Komponisten des 20. Jahrhunderts gilt.
Durchbruch mit Sergio Leone
Nach dem Abschluss arbeitet Morricone für das italienische Radio und Fernsehen RAI. Dort arrangiert er Schlager und experimentiert mit Geräuschen, baut zum Beispiel das Klappern einer Dose ein. Das hatte das Publikum bis dahin noch nie gehört.
Mitte der 1960er-Jahre wird Morricone mit seinen Soundtracks für die Italo-Western von Sergio Leone berühmt. Sie klingen ganz anders als die traditionellen sinfonischen Soundtracks aus Hollywood und sind voller ungewöhnlicher Soundelemente wie Maultrommeln, Pfiffe, Kojotengeheul oder Peitschenknallen.
Spätestens Ende der 1960er gilt Morricone bei Regisseurinnen und Filmemachern als Adresse für innovative Kompositionen. «Il Maestro», wie Morricone oft genannt wurde, hatte ein Gespür dafür, was ein Film braucht. Dabei konnte er stur sein.
Von Hans Zimmer verehrt
Morricones ehemaliger Lehrer Petrassi war der Meinung, Filmmusik zu schreiben, komme für einen akademisch ausgebildeten Musiker der Prostitution gleich. Dass Goffredo Petrassi so über ihn dachte, quälte Morricone. Für ihn war Filmmusik kein untergeordnetes Genre, sondern eine vollwertige Gattung der zeitgenössischen Musik, die alles können muss – von Sinfonien bis zu Pop-Songs.
Heute gilt Ennio Morricone als Schlüsselfigur für die Filmmusik des 20. und 21. Jahrhunderts. Alle Filmmusikschaffenden kennen sein Werk bestens, sagt der Filmkomponist Hans Zimmer im Film: «Aber kann man lernen, wie Ennio zu komponieren?»
«Alles ist möglich»
Der Schweizer Filmkomponist Niki Reiser hat es versucht: Er hat Ennio Morricone einst an einem Workshop in Basel getroffen «Von Morricone kann man lernen, dass jedes Motiv oder jede Melodie wirklich gemeint sein sollte», erinnert er sich im Gespräch mit SRF. «Und dass die Musik immer weitergehen muss. Dass alles möglich ist, wenn man eine Filmmusik schreibt. Es gibt keine Verbote».
Ohne Morricone wäre die Filmmusik heute eine andere, so Niki Reiser: «Er hat alles kombiniert und Genre-Grenzen eingerissen.» Wie sehr seine musikalische Fantasie und Innovationskraft nachwirken, zeigt auch der Dokumentarfilm von Giuseppe Tornatore eindrücklich.
Kinostart: 22.12.2022.