«Selfie mit Flüchtlingen» haben einige Kritiker die 140-minütige Dokumentation «Human Flow» des chinesischen Künstlers Ai Weiwei genannt. Autsch, das schmerzt! Aber trifft das scharfe Urteil auch zu?
Tatsächlich hat sich der 60-Jährige in seinem ersten abendfüllenden Kinofilm etwas gar oft selbst in Szene gesetzt. Zum Beispiel in der überflüssigen Sequenz, in der er sich die Haare schneiden lässt.
Oder in der peinlichen Szene, in der er mit einem Syrier in einem Auffanglager den Pass tauscht. Und nicht merkt, wie unangebracht es ist, dass er ihm gleichzeitig von seinem Loft in Berlin erzählt.
Ein paar Mal weniger Ai Weiwei zu zeigen, hätte dem Film nicht geschadet. Andererseits profitiert «Human Flow» natürlich auch vom berühmten Gesicht und Namen des Künstlers.
Das Schicksal von Millionen steht auf dem Spiel
Ohne Ai Weiweis Zutun hätte die Doku nie so viel Aufmerksamkeit bekommen. Dabei ist die Thematik nicht nur wichtig, sondern geradezu dringlich. «Human Flow», was mit «Menschenstrom» übersetzt werden könnte, dreht sich ganz um das schwere Los der Flüchtlinge. 65 Millionen Menschen sind zurzeit auf der Flucht. So viele wie seit dem Zweiten Weltkrieg nicht mehr.
«Human Flow» versucht, das Ausmass der Krise zumindest teilweise spürbar zu machen. Dafür waren 20 Kamerateams ein Jahr lang in 23 Ländern unterwegs – von Afghanistan über Kenia, Irak und Mexiko bis nach Deutschland.
Zurückgekommen sind sie mit Aufnahmen aus offiziellen und improvisierten Flüchtlingscamps, von überfüllten Zeltstädten, Schlamm und Dreck, spielenden Kindern, von geschlossenen Grenzen, randvollen Booten, verbitterten Jugendlichen.
Beeindruckend und bedrückend
Neu sind diese Bilder nicht. Wer Zeitung liest oder die News im TV verfolgt, hat mehr Déjà-vus, als es Ai Weiwei lieb sein dürfte. Nur ab und zu gelingt es dem Exil-Chinesen, den Blick des Publikums mit Hilfe von Drohnenaufnahmen und ungewohnten Perspektiven zu weiten. Eine klare künstlerische Handschrift ist allerdings nur in den wenigsten Einstellungen zu erkennen.
Fast zweieinhalb Stunden lang reiht Ai Weiwei Aufnahme an Aufnahme, springt von einem Land zum nächsten, von einem Elend zum anderen, ohne erkennbare Systematik, unkommentiert, bis der Zuschauer gar nicht mehr richtig weiss, wo er sich gerade befindet. Wohl ein Stilmittel, um aufzuzeigen, dass das Problem nicht nur einzelne Länder betrifft, sondern die ganze Welt.
«Human Flow» ist nicht einfach ein Selfie mit Flüchtlingen. Es ist das Porträt einer globalen Katastrophe. Doch ein grosses Problem hat der Film: Wirklich Neues erfährt der Zuschauer nicht. Die Aufnahmen beeindrucken und bedrücken zwar in dieser geballten Form im Kinosaal. Lange im Gedächtnis bleiben sie aber kaum. Dafür sind sie uns – leider – nur allzu vertraut.
Kinostart: 16.11.2017