Zunächst deutet nichts darauf hin, dass Pierre bald seinen Beruf an den Nagel hängen wird. In den ersten Szenen lernen wir den 40-jährigen Ingenieur als engagierten und erfolgreichen Geschäftsmann kennen. Er ist mit seinem Team nach Chamonix gereist, um Kunden einen Roboter zu präsentieren.
Doch dann wirft der unterschwellig Entfremdete in Windeseile alles fort, was er sich erarbeitet hat: Hingerissen von den nahen Gipfeln, die er während seines Vortrags durchs Fenster erspäht, folgt er einer inneren Stimme. Quasi über Nacht verwandelt er sich von einem funktionierenden Karrieristen in einen naturverbundenen Alpinisten.
Kurz entschlossen meldet er sich krank, um im Hochgebirge ein Biwak aufzuschlagen. Nicht nur für ein paar Tage, sondern für mehrere Wochen. Mindestens. Irgendwann schreibt er seiner Mutter eine Postkarte, in der er sich über sich selbst wundert: «Ich weiss selbst nicht, warum ich hier oben bleibe. Aber es geht mir blendend.»
Zwischen Pierre und Pierrot
Für die Unterschrift wählt Pierre, was auf Deutsch mit «Gestein» oder «Felsen» übersetzt werden kann, die Verkleinerungsform: Pierrot. So heisst in Frankreich eine berühmte, stumme Bühnenfigur: Ein liebenswert romantischer Narr, dem Regiegott Jean-Luc Godard mit «Pierrot le fou» einst die Ehre erwies.
All dies schwingt mit in diesem verrückten Genre-Mix, den Thomas Salvador als wortkarger Hauptdarsteller und schelmischer Inszenator auf die Leinwand wuchtet.
Denn ein klassisches Aussteigerdrama mit dokumentarischer Anmutung ist «La montagne» nur ganz am Anfang. Danach dürfte der trickreiche Film viele auf dem falschen Fuss erwischen. Was einige entsetzen und andere begeistern wird. Salvadors Schelmenstück polarisiert, weil es ständig neue Fährten legt und dabei radikal eigene Wege geht.
Ein Berg ist kein Block
«Du bist ja krank!», attestiert Pierres Bruder dem Mann im Höhenrausch, nachdem dieser es abgelehnt hat, zurück ins Tal zu kommen. In der Tat wird die Gesundheit unseres Helden auf seiner Reise immer wieder Thema sein: Ist er bloss in die charmante Köchin des Gipfelrestaurants verliebt? Oder stellt Pierres Sturz in eine Gletscherspalte ein Indiz für dessen vermutete Suizidalität dar?
Seine Pflegerin im Spital, in das Pierre einmal wegen akuter Unterkühlung eingeflogen wird, bringt zumindest etwas Licht ins Dunkle. Gestürzt sei er in erster Linie wegen der Klimaerwärmung: «Wenn das Eis schmilzt, bröckelt der Fels und der Berg fällt zusammen.» Zumal ein Berg kein Block, sondern ein lebendiges Gebilde sei, das mit seinen vielen Schichten eher einem Blätterteig gleiche.
Voller funkelnder Geheimnisse
Wem das zu esoterisch oder zu ökologisch klingt, sollte von «La montagne» besser die Finger lassen. Denn das ist nur die Spitze des Eisbergs. Beziehungsweise bloss der Gipfel eines vermeintlich eisigen Bergs, der sich später als funkensprühender Vulkan entpuppen wird.
Mehr zu verraten, wäre schade für all jene, die sich davon nicht abschrecken lassen. Nur so viel: «La montagne» ist ein Findling, der unsere Kinolandschaft bereichert.
Mit bekannten Titeln lässt sich dieser vielschichtige Brocken kaum vergleichen. Wer will, kann sich den höchst romantischen Naturmystik-Bilderbogen als «Le grand bleu» in den Alpen vorstellen. Auf die Gefahr hin, dass einen die eigene Fantasie dabei auf die völlig falsche Fährte lockt – wie so oft in diesem Film.
Kinostart: 15.6.2023