Seydou (Seydou Sarr) und Moussa (Moustapha Fall) behalten ihren Fluchtplan für sich. Sie wissen, dass ihre Mütter sie von der riskanten Reise nach Europa abhalten würden. Um das horrende Schleusergeld für Pässe und Transport zusammenzubekommen, arbeiten und sparen sie monatelang.
Matteo Garrone inszeniert den Aufbruch der beiden hoffnungsvollen Jugendlichen in warmen Farben und stimmungsvollen Bildern. Eine visuelle Metapher: Die Erwartungen an ein neues, besseres Leben in Italien scheinen zu schön, um wahr werden zu können.
Ausgenommen wie Weihnachtsgänse
Wie Seydou und Moussa in einer Mischung aus Naivität, Hoffnung und Abenteuerlust im Bus nach Mali sitzen, möchte man ihnen «Kehrt um!» zurufen. Sie reisen – aller Warnungen zum Trotz – weiter und erfahren beim Grenzübertritt, dass diese Flucht anders verlaufen wird, als sie es sich ausgemalt hatten.
Im gut geölten Schleuserbetrieb mit seinen kaltblütigen «Fluchthelfern» werden die Minderjährigen ausgenommen wie Weihnachtsgänse. Libysche Soldaten knöpfen den beiden, nachdem sie einen höllischen Marsch durch die Wüste knapp überlebt haben, den letzten Rest ihres Geldes ab. Die Cousins werden gewaltsam getrennt. Seydou gerät in ein Internierungslager.
Erpressung, Zwangsarbeit und Folter jenseits aller Vorstellungskraft überleben viele der Gefangenen nicht. Für Seydou geht es nun ums nackte Überleben.
Wüstenbrunnen gegen Freiheit
Als er schliesslich als Arbeitssklave an einen libyischen Stammesfürsten verkauft wird und zu dessen Zufriedenheit einen formschönen Springbrunnen in die Wüste baut, keimt in Seydou neue Hoffnung auf. Wie versprochen bezahlt ihm der Sklavenhalter nach erfolgter Arbeit die Weiterreise nach Tripolis am Mittelmeer.
Matteo Garrones Film kann man unterstellen, dass er die politische Facette im Flüchtlingsdrama weitgehend ignoriert. Tatsächlich fokussiert er sich auf die individuelle Perspektive der beiden jungen Männer, die sich zwar von ihrer Herkunft, nicht aber in ihren Träumen und Hoffnungen von europäischen Jugendlichen unterscheiden. Seydou möchte in Europa als Musiker Erfolg haben, wo er doch ein Talent dafür hat.
Mit dem individuellen Blick auf diese Menschen wird jedoch das Politische erzählt: Europa verhandelt die «Flüchtlingsproblematik» und «Migrationsströme». Der Film zeigt, dass hinter solchen Begriffen einzelne Menschen mit persönlichen Schicksalen stecken. Am Filmfestival von Venedig wurde Garrones Flüchtlingsdrama mit dem Silbernen Löwen ausgezeichnet, der prestigeträchtigste unter zahlreichen weiteren Preisen.
Erloschene Hoffnung in ihren Augen
Seydou und Moussa finden in Tripolis wieder zusammen, beide körperlich und seelisch schwer versehrt. Italien liegt nur noch eine Tagesreise über das Mittelmeer entfernt, wie ihnen skrupellose Schlepper mit süsslicher Stimme unter die Nase reiben: «Es ist ganz einfach! Das Meer ist ruhig!».
Einen Kapitän hat der rostige Kahn nicht. Der völlig unerfahrene 16-jährige Seydou übernimmt das Steuer und mit dazu die erdrückende Verantwortung für dutzende Männer, Frauen und Kinder. Ein «Capitano» wider Willen auf einer Reise des Grauens.
Als Seydou und Moussa die italienische Küste erspähen und kurz vor dem langersehnten Ziel stehen, ist die Hoffnung in ihren Augen vollends erloschen. Ein Drama mit Gänsehautgarantie.
Kinostart am 4.1.2024.