Sie macht eine traurige Figur, diese Physiklehrerin am Lycée Arthur Rimbaud in Lyon. Sie hat sich der Wissenschaft und dem Unterrichten mit ganzem Herzen verschrieben.
Aber pädagogisches Talent geht Madame Géquil völlig ab; ihre Schüler und ihre Kolleginnen hassen die ungeschickte, kleine rothaarige Lehrerin. Bis sich ihre Persönlichkeit über Nacht verändert.
Zwei Streberinnen und der Rektor
Wer sich je selbst als Lehrerin oder Lehrer versucht hat (oder auch nur mit etwas erstaunter Empathie auf die eigene Schulzeit zurückblickt), wird sich schnell zurechtfinden in dieser von Serge Bozon sorgfältig gegen den Strich und die Erwartungen gebürsteten Ermächtigungsphantasie.
Die Lehrerin, die sich von ihren Schülern Interesse und ein gewisses Mass an Leidenschaft erhofft, wird immer und immer wieder enttäuscht. Die beiden Klassenstreberinnen machen sie beim Schulrat herunter, der Rektor (ein irrwitzig chargierender Romand Duris) kündigt genüsslich den Besuch des Schulinspektors an.
Und Malik, der gehbehinderte Schüler, den Madame Géquil besonders ins Herz geschlossen hat, ist der Anführer der verbalen und praktischen Unterrichtsverweigerung.
Phänomenale Hauptdarstellerin
Isabelle Huppert ist einmal mehr phänomenal. Mit minimalem Aufwand, rotgeränderten, dauerverheulten Augen, einer zusammengesunkenen Körperhaltung und einem unerklärlich panischen Gesichtsausdruck verkörpert sie die gequälte Lehrerin, mitleiderregend und herausfordernd zugleich.
Er sei von Robert Louis Stevensons Roman «Der seltsame Fall des Dr. Jekyll und Mr. Hyde» ausgegangen, sagt Regisseur Serge Bozon. Aber den habe er erstens in unsere Zeit versetzt, zweitens in die französische Banlieue.
Drittens sollte aus dem experimentierenden Arzt ein Lehrer werden. Und schliesslich aus dem Mann eine Frau. Und so wird Hupperts Madame Géquil eben nach und nach zu Madame Hyde.
Vom Blitz getroffen
Ihm sei es wichtig gewesen, richtige Schulszenen im Film zu haben, sagt Regisseur Bozon. Szenen also, in denen den Schülern ein Problem vorgelegt werde, das sie zu lösen hätten. Und die Szenen endeten erst, wenn das abgeschlossen sei. Damit wirklich erfahrbar werde, wie so ein Lehrprozess ablaufe.
Das ist eine der Stärken dieser Inszenierung, dass sie nie in Genre-Posen erstarrt. Selbst nachdem Madame Géquil in ihrem Labor vom Blitz getroffen wurde und sich immer öfter des Nachts in Madame Hyde verwandelt, genügt dafür zunächst ein kleiner Lichteffekt und später eine leuchtende Negativüberlagerung der ganzen Gestalt.
Viel wichtiger sind natürlich die Veränderungen, die bei Madame Géquil tagsüber in der Schule stattfinden. Die Autorität, die sie plötzlich ausstrahlt, die Energie, das Tempo.
Im Käfig
Anders als bei Stevenson gehe es bei Madame Hyde nicht von der Verwandlung vom Guten zum Bösen, sagt Regisseur Serge Bozon, sondern vom pädagogischen Unvermögen zum pädagogischen Talent.
Wenn schliesslich der Inspektor tatsächlich in der Klasse sitzt und die Lehrerin eine ihrer beiden strebsamen Peinigerinnen in den eben gebauten faradayschen Käfig bittet, hat sie eine persönliche und pädagogische Souveränität erreicht, die ihr selber unheimlich wird.
Wissenschaftsphilosophisches Vergnügen
Weil Madame Géquil die Transformation allerdings nicht gesucht habe, bekomme sie das auch nicht in den Griff und die Wirkung entgleite ihr. Sie habe im Film schliesslich einen hohen Preis zu zahlen, sagt Regisseur Bozon.
Und das ist dann die zweite Stärke des Films: Er baut keine Superheldin auf, die sich schliesslich im Glanz ihrer neuen Fähigkeiten ausruhen kann, sondern er folgt weiter dem Prinzip von Stevensons «Doctor Jekyll and Mr. Hyde».
Serge Bozon belässt die Ermächtigungsphantasie im pädagogisch didaktischen Rahmen und führt das mit Hilfe von Isabelle Huppert auch konsequent zu Ende.
Sendung: Radio SRF 2 Kultur, Kultur kompakt, 29.03.2018, 08.20 Uhr