Dichtestress ist ein praktischer Begriff. Weil sich jeder sofort etwas darunter vorstellen kann. Und weil er sozialwissenschaftlich klingt, ohne es zu sein. In Wirklichkeit stammt er aus der Zoologie und beschreibt einen natürlichen Regulationsmechanismus. Heutzutage wird er aber vor allem von der politischen Rechten verwendet, die damit sagen will: «Kommen Fremde, so leidet der nationale Ureinwohner unter Stress.»
Kampf den Kampfbegriffen
Der letzte Satz ist ein direktes Zitat von Regisseur Thomas Haemmerli. Süffisant kommentiert er in seinem jüngsten Doku-Essay die Befindlichkeit der Nationalkonservativen. Die beissende Ironie ist nicht nur Haemmerlis Markenzeichen, das sein ganzes Schaffen durchdringt. Sie ist fast schon ein Zwang, wie er in unserem Interview beichtet:
«Ich kann gar nicht anders als ironisch erzählen. Gerade bei schwierigen Themen muss man auch lachen dürfen. Doch trotz des heiteren Tonfalls will ich die wichtigsten Fragen zur Stadtentwicklung ernsthaft beantworten: Zum Beispiel, ob wir zu wenig Raum in der Schweiz haben, weil uns der Ausländer die Wohnung, die Arbeit und den letzten Sitzplatz wegnimmt.»
Selbsternannter Finsterling
Dichtestress ist aber nicht das einzige Unwort, das Haemmerli geistreich zerpflückt. Auch dem städtischen Schreckgespenst der radikalen Linken, der Gentrifizierung, geht es an den Kragen.
Obwohl Haemmerli ein überzeugter Linker ist, blickt er mit kritischer Distanz auf den Kampfbegriff, der die Verdrängung ärmerer Schichten durch finanzkräftigere Mieter umschreibt. Wohl auch, weil er sich selbst als Teil des Problems begreift. Nicht umsonst heisst Haemmerlis autobiographischer Film mit vollem Titel: «Die Gentrifizierung bin ich. Beichte eines Finsterlings.»
In unserem Interview fasst er seine finsteren Taten schuldbewusst zusammen: «Ich bin natürlich der Ober-Gentrifizierer, indem ich Wohnungen in der Altstadt von Tiflis, dem Hipster-Viertel von Mexico City und an Zürichs Weststrasse besitze.»
Reale Wohnungsnot
Ein wirklich schlechtes Gewissen hat Haemmerli freilich nicht. Schliesslich weiss er allzu gut, dass die Gentrifizierung auch positive Aspekte mit sich bringt. So sagt er im Film über den Kauf seiner Wohnung in Tiflis: «Die Stadt ist alt und brauchte das Geld.»
Die Wohnungsnot in Zürich wiederum habe wenig mit der Gentrifizierung zu tun. Die zehn wahren Gründe dafür rattert die Dokumentation in verspielter Listenform runter. Ein Grund sticht dabei besonders ins Auge: Emanzipation. Klar, dass wir das in unserem Interview mit Thomas Haemmerli genauer erläutert haben wollten.
«Dass ich Emanzipation als Grund für die Wohnknappheit nenne, hat natürlich damit zu tun, dass ich gerne provoziere. Und doch stecken auch hier reale Fakten dahinter. Die Emanzipation hat Gott sei Dank dazu geführt, dass Frauen heute selber verdienen und sich eine eigene Wohnung leisten können. Das ist einer der Treiber, warum in allen grösseren Städten der entwickelten Länder über 50 Prozent der Leute allein wohnen.»
Ein echter Haemmerli
Auch wenn nicht alle Punkte gleichermassen einleuchten, so landet «Die Gentrifizierung bin ich» mit seiner erfrischenden Respektlosigkeit doch reichlich Treffer.
Thomas Haemmerli knüpft stilistisch damit direkt an sein preisgekröntes Kinodebüt «Sieben Mulden und eine Leiche» an, das 2007 viel frischen Wind in die Schweizer Dokfilmszene brachte.
Wer Haemmerlis filmische Auseinandersetzung mit seiner verstorbenen Messie-Mutter mochte, wird auch seinen neusten Doku-Essay lieben. Das pointierte Pamphlet gegen den raumplanerischen Kleingeist ist eine Haemmerli-harte Attacke aufs Zwerchfell, die uns allen den Spiegel vorhält.
Kinostart: 22. Februar 2018