Anne (Anamaria Vartolomei) steht kurz vor dem Abschlussexamen am Collège. Danach möchte die begabte Tochter eines Gastronomenpaars an die Universität. Als ihre Menstruation ausbleibt, bringt der Besuch beim Arzt Klarheit: Anne ist schwanger.
Was der Arzt – trotz Verständnis für Annes Situation – gleich klarmacht: Der von ihr gewünschte Schwangerschaftsabbruch ist keine Option. Abtreibung ist im Frankreich der 1960er-Jahre illegal und wird mit Gefängnis geahndet.
Anne aber weiss: Sie will dieses Kind (von einer losen Bekanntschaft) auf keinen Fall bekommen. Sie will studieren. Kind und Studium zu vereinbaren ist in dieser Zeit noch absolut unvorstellbar.
Sie sucht einen Weg, zu einer Abtreibung zu kommen. Aber die Zeit läuft und Anne kann weder ihre Eltern noch ihre Schulfreundinnen einweihen. Schliesslich zieht sie ihren Studienfreund Jean (gespielt vom Schweizer Kacey Mottet-Klein) ins Vertrauen, der ihr einen entscheidenden Kontakt verschafft.
Der Schrecken der Stricknadel
Audrey Diwans Film ist im besten Sinn ein Epochenfilm, der auch darüber hinaus ausstrahlt. Er ist keine Ausstattungsorgie, der die frühen 1960er-Jahre «materiell» vermitteln will.
Dafür macht die französische Regisseurin sicht- und spürbar, was es damals für eine junge Frau bedeutete, ungewollt schwanger zu werden und den Weg bis zu einer Abtreibung zu gehen. Dafür erhielt Diwan an den Filmfestspielen in Venedig 2021 den Goldenen Löwen.
Schonungslos zeigt Audrey Diwan, welchen Demütigungen und unvorstellbaren Vorgängen eine abtreibungswillige Frau ausgesetzt war. Bis hin zur berüchtigten Stricknadel, mit der sich schon manche Frau ernsthaft verletzt hat.
Es war eine Zeit, in der Verhütung noch nicht wirklich Thema war, die Pille war noch nicht auf dem Markt. Schwangeren Studentinnen blieb kein anderer Weg, als das Studium abzubrechen oder – wenn überhaupt möglich – illegal abzutreiben.
Ein Wettlauf gegen die Zeit
Der Film bleibt konsequent bei Anne. Er zeigt ihre Unbeirrbarkeit und ihren Wettlauf gegen die Zeit. Diesen macht Regisseurin Diwan sichtbar, indem sie den Film in Kapitel teilt: Es sind die Schwangerschaftswochen.
Die junge Schauspielerin Anamaria Vartolomei ist beeindruckend als Anne – charismatisch, gleichzeitig verletzlich und unglaublich stark in ihrem Willen, ihren eigenen Weg zu gehen.
Feministisches Manifest
Anne Diwans Film «L’événement» wurde als Anklang an das Kino der Zeit im fast quadratischen alten Kinoformat gedreht. Der Film ist beeindruckend in seiner Deutlichkeit, in seiner gradlinigen Erzählweise und in seiner Nähe zu den Figuren.
Er macht auch klar: Diese Geschichte ist zwar fast 60 Jahre her. Aber noch heute ist selbstbestimmter Schwangerschaftsabbruch ein schwieriger Weg. Vielerorts (wie jüngst in Texas) werden die Gesetze wieder verschärft.
«L’événement» ist also weit mehr als nur die Verfilmung eines autobiografischen Ereignisses. Der Film ist auch ein eindrückliches feministisches Manifest für das Recht auf Selbstbestimmung.
Kinostart: 24. März 2022