Vor einem Jahr feierte Ursula Meier auf der Berlinale die Uraufführung ihres Films «La ligne». Nun läuft das Familiendrama der schweizerisch-französischen Regisseurin bei uns im Kino an.
Ein Auftakt, der einfährt
Der Anfang des Films geht unter die Haut. Oder direkt in den Magen, als Faust. In Zeitlupe fliegen Dinge durch die Luft, zerschellen an der weissen Wand, Geschirr, Blumenvasen, schliesslich Musiknoten. Dazu erklingt ein wunderschönes, klassisches Musikstück.
Dann – immer noch in Zeitlupe und mit Musik unterlegt – sieht man eine junge Frau, die ausrastet. Männer versuchen sie zurückzuhalten, eine andere Frau will sich vor den Angriffen schützen. Die Gesichter sind wutverzerrt, ängstlich. Zu hören ist schöne Musik, der Lärm des Kampfes wird nur teilweise eingeblendet.
Mehrere Minuten dauert diese verlangsamte Szene – bis die eine Frau mit dem Kopf auf einen Flügel knallt und die andere mit blutigem Gesicht aus dem Haus geworfen wird. Das fährt ein, das ist starkes Kino!
Eine tickende Bombe
Hier ist eine Tochter in unbezwingbarer Wut auf die Mutter losgegangen – nicht zum ersten Mal. Wir erfahren bald: Margaret hat ein Aggressionsproblem. Sie schlägt sich dauernd, am ganzen Körper sind Narben.
Dabei sieht die 35-jährige Frau mit dunklen, kurzen Haaren und grossen Augen zierlich aus. Aber ihre unbestimmte Wut, die immer zu spüren ist, macht Margaret zu einer tickenden Bombe.
Eine Grenze zwischen Menschen
Nach dem Angriff auf die Mutter wird Margaret ein Kontaktverbot auferlegt. Sie darf sich dem Haus auf maximal 100 Meter nähern. Eine blaue Linie markiert fortan diese Grenze und durchzieht die etwas langweilige Einfamilienhaussiedlung im Walliser Chablais.
An dieser Linie taucht Margaret immer wieder auf, will Kontakt zur Familie herstellen – und musiziert auf einer Wiese in Sichtweite zum Haus regelmässig mit der kleinen Manon, die unbedingt zwischen Mutter und Margaret vermitteln will.
Aber die Wunde ist kaum zu heilen, denn durch Margarets Angriff hat die Mutter einen Hörschaden erlitten und muss die Musik aufgeben. Sie flüchtet sich in die Beziehung mit einem jüngeren Mann und verkauft ihren Konzertflügel. Das aber verschweigt Manon der älteren Schwester, damit diese nicht «zum Teufel» wird, wie Manon sagt.
Zwischen Zerbrechlichkeit und Weissglut
Margaret wird gespielt von der schweizerisch-belgischen Schauspielerin und Musikerin Stéphanie Blanchoud, die auch am Drehbuch mitschrieb. Sie schafft es unglaublich präzise, diese 35-jährige Frau zwischen Wut und Zerbrechlichkeit darzustellen. Wut auf ihre Mutter, die nie gern Mutter war und ihr, der ersten Tochter, die Schuld daran gibt, dass sie ihre Karriere als Konzertpianistin aufgeben musste.
Zerbrechlichkeit, weil sie sich nach dieser Mutterliebe sehnt, die sie nie hatte. Valeria Bruni-Tedeschi spielt die exaltierte und unreife Mutter immer ein bisschen am Rande der Übertreibung. Aber genau so muss sie sein, diese Frau, die einen manchmal tatsächlich zur Weissglut treiben könnte.
Ursula Meier inszeniert die Geschichte der dysfunktionalen Familie mit einem grossen Gespür für Timing, für Interaktionen und mit skurrilen und schrägen Regieeinfällen, die aber alle ihre Funktion und ihren Platz haben in diesem Film.
Im Lauf des Films verschwinden Linie und Narben langsam – ob auch die Narben im Familiengefüge verheilen und verschwinden, das lässt sich nur erahnen.
Kinostart 16.02.2023