Die Zahlen sprechen für sich: Weniger als 45 staatliche Ambulanzen betreuen in Mexiko-Stadt ganze neun Millionen Einwohner. In diese eklatanten Breschen springen daher kleine Privatfirmen: Sie holen die Verletzten mit Blaulicht von den Strassen – und achten aber gleichzeitig auch darauf, dass am Ende einer langen Nacht die Kasse stimmt. Willkommen im hektischen, lauten Berufsalltag der Familie Ochoa.
Aus diesem brisanten Stoff hätte man ziemlich militantes Kino fabrizieren können. Einen Film etwa, der sagt: «Seht her, auf welche Missstände es hinausläuft, wenn die öffentliche Hand die notwendigsten Dienste nicht mehr erbringt.»
Aber diesen Film zu machen, das hätte bedeutet: Die Ochoas vor allem zu zeigen, wie sie scheitern; oder zu suggerieren, dass es ihnen bei ihrer Arbeit nur um das Geld geht – und das wollte der junge US-Regisseur Luke Lorentzen, Jahrgang 1993, nicht.
Keine moralische Lektion
Im Gespräch erklärt Luke Lorentzen: «Wir wollten möglichst ausgeglichen zeigen, was in diesem Familienbetrieb gut läuft, und was schlecht. In meiner Anwesenheit haben diese Männer mehrfach Leben gerettet – aber in anderen Nächten verlief es ethisch gesehen etwas komplizierter. Bei jedem Unfall, den wir zeigen, geht es zuerst um das Überleben der Verletzten, aber auch um das Überleben dieser Familie – und dieses Dilemma wollten wir im Verlauf des Films zuspitzen.»
Bescheiden spricht Lorentzen damit aus, warum sein zweiter Langfilm «Midnight Family» so ausserordentlich gelungen ist: Weder das Konzept, noch die Dreharbeiten mit einigen Kleinkameras, noch die Montage des Materials folgten jemals einer vorgefertigten Botschaft.
Es ging dem Filmemacher von Anfang darum, das Abenteuerliche und das moralisch Ambivalente an den teils brenzligen Situationen herauszuarbeiten, um damit einen soliden Spannungsbogen zu erzeugen. Lorentzen selbst fügt hinzu: «Was das Publikum am Schluss davon mitnimmt, das sei ihm selbst überlassen.»
Wie in einem Thriller
Man nimmt eindrückliche Bilder im Breitleinwandformat mit aus dem Kino: Künstliches Licht in Blau- und Rottönen dominiert wie in einem urbanen Thriller, es fliesst bisweilen Blut, es heulen Sirenen, es wird im Strassenverkehr durch Megaphone gebrüllt, zweifellos werden Tempolimits überschritten. Für die Ochoas – ein Vater, seine zwei Söhne, und einige verwandte Helfer – scheint vieles davon Routine zu sein: Sie lachen viel, sie zeigen sich humorvoll und menschlich. Kurz: Man beobachtet sie gern.
«Tatsächlich hätte ich mein Material auch problemlos zu einer Komödie umschneiden können», sagt Lorentzen. «Oder zu einem Heldenepos. Oder umgekehrt zu einem Film, der die Ochoas als herzlose Raubritter zeigt. Aber wir wollten das richtige Gleichgewicht, und deshalb haben wir auch bis im letzten Moment noch Szenen ausgetauscht.»
Diese Arbeit hat sich gelohnt: Das Ergebnis ist eine Art Mix aus all diesen möglichen Filmen – und gerade weil sich «Midnight Family» nie in ein Genre einordnen lässt, ist der Film auch keine Sekunde langweilig.
Kinostart: 2.1.2020