Andere Zeiten, anderes Elend. Wie in Victor Hugos Armutsstudie «Les Misérables», die zwischen 1815 und 1832 spielt, befinden wir uns auch in Ladj Lys gleichnamigen Film im Pariser Vorort Montfermeil.
Noch immer führen hier soziale Spannungen zu Aufständen, auch wenn sich das Antlitz der Banlieue komplett verändert hat. Heute prägen Hochhäuser, Immigranten und Arbeitslose das Stadtbild.
Polizist Stéphane (Damien Bonnard) ist neu in der von Kriminalität, Drogenhandel und Gewalt dominierten Asphalthölle. Gemeinsam mit Macho-Cop Chris (Alexis Manenti) und Milieu-Kenner Gwada (Djibril Zonga) soll er für Recht und Ordnung sorgen. Ein unmögliches Unterfangen, zumal hier jeder die Grenzen zwischen Gut und Böse anders zu ziehen pflegt.
Das schmutzigste Zitat
Richtig problematisch wird es spätestens, wenn frustrierte Gesetzeshüter ihre Macht zu missbrauchen beginnen. So filzt der cholerische Chris mit unappetitlicher Aufdringlichkeit eine Jugendliche, die er als Kifferin enttarnen möchte.
Als diese auf ihre Rechte pocht, wird sie vom handgreiflichen Vorstadt-Cop folgendermassen attackiert: «Ausnahmezustand: Gleich hast du meinen Finger im Arsch!»
Eine Androhung übelster Polizeigewalt, die ethisch freilich durch nichts zu rechtfertigen ist.
Der Regisseur
Filmemacher Ladj Ly weiss, wovon er spricht. Der Franzose ist selbst in Montfermeil aufgewachsen. Im Oktober 2005 erlebte er hautnah mit, wie sich nach dem Tod zweier Teenager der Frust in den Strassen entlud.
Ly dokumentierte nach diesen Aufständen ein Jahr lang sein Umfeld. Aus diesen Aufnahmen entstand die Dokumentation «365 jours à Clichy Montfermeil», die er eine Dekade später fiktionalisierte.
Das Ergebnis war ein 16-minütiger Kurzfilm namens «Les misérables», der ihm 2017 eine César-Nominierung einbrachte. Dank dieser konnte er schliesslich sein erstes Langspielfilm-Projekt in Angriff nehmen.
Fakten, die man wissen sollte
«Les misérables» feierte 2019 in Cannes Premiere, wo das 100-minütige Sozialdrama von der Kritik begeistert aufgenommen wurde. Als Neuling im Hauptwettbewerb gewann Ly mit seinem atemlos inszenierten Film auf Anhieb den Jury-Preis.
Doch damit nicht genug der Ehre: Die Grande Nation hat «Les misérables» zum offiziellen Oscar-Kandidaten erkoren. Und das in einem Jahr, in dem Frankreich gleich mehrere heisse Eisen im Feuer hatte. Zum Beispiel Céline Sciammas mehrfach preisgekröntes «Portrait de la jeune fille en feu».
Doch anders als bei den Golden Globes kann es bei den Oscars in der Sparte «Bester fremdsprachiger Film» nur einen Kandidaten pro Land geben. Umso mehr gilt: Chapeau, Ladj Ly!
Das Urteil
In diesem moralisch aufwühlenden Film ist man als Zuschauer mittendrin, statt nur dabei. Ein Grossteil der Szenen wurde mit der Handkamera gedreht, die einem die Figuren physisch und psychisch ungemein nahebringt.
Zusätzlich setzt Ly – wie bereits in seiner Doku – eine Drohne ein, die auch innerhalb der Handlung eine entscheidende Rolle spielt. Dank Drohnen-Bildern, Smartphone-Videos und Social-Media-Posts bewegt sich «Les misérables» ganz auf der Höhe seiner Zeit.
Ohne darüber zu werten, zeigt Ly, wie sich die Unterschicht mit Hilfe modernster Technik selbst bemächtigt. Diese authentische Skizzierung des Aufbegehrens in der Banlieue muss man gesehen haben.
Kinostart: 9.1.2020