Die Traumfabrik ist derzeit ganz aus dem Häuschen. «Wonder Woman», die erste wirklich teuer produzierte Comicverfilmung mit einer Superheldin als Titelfigur, übertrifft an den Kinokassen alle Erwartungen. In den ersten zwei Wochen seit dem US-Start hat der Blockbuster weltweit fast eine halbe Milliarde Dollar eingespielt.
Neu definierte Spielregeln
Hinter «Wonder Woman» steckt geballte Frauen-Power, verkörpert von Hauptdarstellerin Gal Gadot und Regisseurin Patty Jenkins. Letztere ist die erste Filmemacherin, der Hollywood je eine Produktion dieser Grössenordnung anvertraut hat.
Dank ihres Erfolgs dürften vermehrt Frauen im Superheldengeschäft Fuss fassen. Experten nennen «Wonder Woman» darum einen game changer – einen Film, der die Spielregeln der Branche neu definiert.
Revolutionäres Wunderweib
Bricht nun das Zeitalter der Superheldinnen an? Kaum. Schliesslich ist das Zielpublikum für Comic-Adaptionen weiterhin überwiegend männlich. Doch immerhin dürfte sich Hollywood von der Überzeugung lösen, dass heroische Action-Kisten zwingend Testosteronbündel als Identifikationsfiguren benötigen.
Warum die grossen Studios so lange gebraucht haben, dies zu erkennen, ist Regisseurin Patty Jenkins ein Rätsel: «Das ist in der Tat erstaunlich. Zumal es in den Comics schon immer viele Superheldinnen gegeben hat. Wonder Woman zählt gar zu den bekanntesten Heldenfiguren überhaupt.»
Erfunden wurde die Figur in den frühen 1940er Jahren vom Psychologen, Comic-Fan und selbsternannten Feministen William Moulton Marston. Eine Frau mit Superkräften, das war damals eine kleine Sensation. Marston wollte mit Wonder Woman indes nicht nur eine Marktlücke füllen. An ihrem Wesen sollte gleich die ganze Welt genesen.
Symbolträchtige Reizfigur
Es war aber nicht nur die «grundlegende moralische Überlegenheit der Frau», die Marston künstlerisch antrieb. Er sublimierte mit Wonder Woman auch seinen eigenen sexuellen Wunsch «von einer Frau gebunden und gezähmt zu werden».
Da Bondage-Phantasien in den 40er Jahren nicht gerade gesellschaftskonform waren, bekam Marston Probleme. Die Situation entspannte sich erst, als Marston der Weisung seines Herausgebers folgte, die Kettenszenen in den Comics um 50 bis 75 Prozent zu reduzieren.
Sturm der Entrüstung
Das hinderte Wonder Woman freilich nicht daran, die Gemüter weiter zu erhitzen. Letztes Jahr – pünktlich zum 75. Geburtstag der Superheldin – ernannte sie die UNO zur Ehrenbotschafterin für Frauenrechte. Die Folge war ein Sturm der Entrüstung.
Cass DuRant, eine besorgte Mitarbeiterin der Vereinten Nationen, brachte die Kritik folgendermassen auf den Punkt: «Wir glauben nicht, dass eine fiktive Comicfigur, die im Grunde das Outfit eines Playboy-Bunnys trägt, die richtige Botschaft an unsere Mädchen oder gar Jungs ist.»
Angeschlagene Ehre retten
Über 44‘000 Personen unterzeichneten schliesslich eine Petition, die danach verlangte, Wonder Woman den Status als UNO-Botschafterin wieder zu entziehen. So kam es dann auch – nur wenige Wochen nach ihrer symbolischen Amtseinsetzung.
Die PR-Abteilung des neuen Kinofilms war davon freilich wenig angetan. Um die angeschlagene Ehre ihrer Heldin zu retten, liess sie formelhaft verlauten: «Wonder Woman wird ihr Engagement für Frieden, Gerechtigkeit und Gleichheit weiterführen – auch nach ihrer Zeit als Ehrenbotschafterin.»
Kalkulierte Vieldeutigkeit
Man durfte also gespannt sein, wie sich Wonder Woman in ihrem ersten Kinofilm zeigen würde. Zurückhaltend oder dominant? Züchtig oder sexy? Als feministische Idealistin oder als leichtbekleidete Männerphantasie? Nun, ähnlich wie bei einem Rorschach-Test kommt es ganz auf den Betrachter an… Wonder Woman eignet sich durch ihre vielfältigen Bedeutungsfacetten hervorragend für die unterschiedlichsten Interpretationen.
Wer will, kann so gut wie alles in sie hineinprojizieren. Verschiedene Lesarten für ein möglichst grosses Zielpublikum – das ist natürlich ganz im Sinne Hollywoods, wie Regisseurin Patty Jenkins im Interview bekräftigt: «Der Film soll allen gefallen. Darum ist meine Wonder Woman eine universelle Heldin. Es geht nicht nur um ihre Weiblichkeit. Sie ist ein Idol mit Superkräften. Dass sie eine Frau ist, kommt erst an zweiter Stelle.»
Als Genrefilm bloss Mittelmass
So viel sich über die Verwertbarkeit der Wunderfrau als eierlegende Wollmilchsau erzählen lässt: Als Genrefilm ist «Wonder Woman» bloss Mittelmass und damit nicht der Rede wert.
Überdurchschnittlich sind Machart und Humor bloss im Vergleich mit anderen DC-Verfilmungen wie «Batman v Superman». Die Ordnung im Superhelden-Segment bleibt somit unangetastet: Marvel regiert, DC kopiert.
Kinostart: 15. Juni 2017