Es sind schrille Stimmen am Fernsehen, die Dramatisches verkünden. Der Kioskbetreiber von nebenan hat seine Fenster mit Zeitungen verklebt. Das Jahr ist 2011, und Syrien steht an der Schwelle zu einem Bürgerkrieg, der sich zu einem globalen Konflikt mit Hunderttausenden von Toten ausweiten wird.
Man ist sich nicht sicher, inwiefern die sich anbahnende Tragik bis zur 25-jährigen Nahla (Manal Issa) durchdringt. Die attraktive Frau hat offensichtlich andere Sorgen. Und die Desolation der Stadtkulisse scheint für sie nur eine äussere Entsprechung ihres dahinvegetierenden Innenlebens zu sein.
Eigentlich könnte Nahla ja raus aus dem Elend. Ein US-Syrer ist gerade auf Brautschau, er würde sie gern in die Staaten mitnehmen. Aber sie liebt ihn nicht. Daher: nein.
Der Traummann bleibt Traumman
Nahla hat sexuelle Fantasien. Und der Film wird sich auch intensiv damit befassen. Ihre erotischen Träume drehen sich um einen Mann, den es gar nicht gibt.
Doch dann tut Nahla etwas Seltsames. Sie geht in den oberen Stock des Hauses, wo Männer – auch Soldaten – Liebe gegen Geld abholen. Und sie lässt sich dort ein Zimmer geben. Warum bloss?
«Mon tissu préféré» heisst der Film, mein liebster Stoff. Und darum geht es: Nahla will selbst bestimmen, wer oder was an ihre Haut gelangt.
Sie feilt an ihrer Verführungskunst und arbeitet konsequent darauf hin, mit ihrer Ausstrahlung nicht nur zu gefallen, sondern Macht über Männer zu erlangen. Vielleicht ist das eine Analogie zum Kriegsgeschehen im Hintergrund: Nahla macht ihren Körper zur Waffe.
Auch negative Reaktionen
«Mon tissu préféré» wurde 2018 am Filmfestival von Cannes in der Sektion «Un certain regard» uraufgeführt. Er stiess dort nicht nur auf positive Resonanz. Tendenziell wurde bemängelt, dass eine humanitäre Tragödie hinhalten müsse, als Kulisse für eine feministische Nabelschau.
Letzteres stimmt. Der Film ist autobiografisch geprägt. «Nahla, c’est moi!», sagt die Filmemacherin Gaya Jiji gern. Im Jahr 2011 lebte sie noch in Syrien, heute in Frankreich.
Im Interview räumt sie ein, dass es Missverständisse um den Film gab. «Einigen Presseleuten wurde nicht klar, wie Sexualität und Krieg zusammenhängen», sagt Jiji. «Dabei ist es ganz einfach: Erst wenn eine Frau über ihren eigenen Körper verfügt, kann sie gegen alles ankämpfen!»
Rebellische Sinnlichkeit
Der Film ist in der Tat ein starkes feministisches Statement.
Vor allem aber ist «Mon tissu préféré» ein verfänglich betörender, sinnlicher Film. Licht, Musik, Schnitt, Drehbuch – und die starke Aura der Hauptdarstellerin: Alles ist hier darauf ausgerichtet, die Spannungen erotischer Würde aus weiblicher Sicht zu schildern.
Die angewandten Referenzen («Alice im Wunderland», «1001 Nacht», Luis Buñuels «Belle de Jour») wirken zwar in der Tat etwas eskapistisch in Anbetracht des Kriegsgeschehens auf der Strasse.
Aber «Mon tissu préféré» ist ja auch kein Kriegsfilm, sondern eine rebellische, heissblütige Fantasie zu Zeiten des Krieges.
Kinostart: 06.06.2019