«Diskutieren wir über grosse Künstler», schlägt eine helvetisch gefärbte Stimme am Anfang aus dem Off vor: «Über Manet oder über Klee.» Die Leinwand ist zu diesem Zeitpunkt noch komplett schwarz, quasi unberührt.
Erst nach 20 Sekunden rückt die Doku ihren Protagonisten ins Bild. Harald Naegeli, ein reifer Mann mit schwarzem Hut und vielen Vorbildern, über die er gerne spricht: «Über Malewitsch oder Arp. Oder oder oder oder.» Naegeli lacht, macht eine Kunstpause und lehnt sich für die Pointe in Richtung Kamera vor: «Oder über mich!»
Sprühender Charme in hohem Alter
Noch bevor der Titel erscheint, ist Regisseurin Nathalie David bereits ein Kunststück gelungen: Sie hat ihren Helden mit wenigen Strichen skizziert und dessen gewitztes Wesen stilvoll auf den Punkt gebracht.
Dabei stammt die Idee, den «Sprayer von Zürich» zu porträtieren, gar nicht von der kunstaffinen Filmemacherin. Es war vielmehr Produzent Peter Spoerri, der seit 1979 sorgfältig alle Artikel über seinen Landsmann gesammelt hatte. Mit dem Ziel, eine Doku über den selbsternannten Utopisten zu realisieren.
Dieser winkte zunächst ab: Er sei zu krank und zu alt, um noch an Filmprojekten mitzuarbeiten. Nach zwei Darmoperationen und einem Bauchwandbruch könne er nicht mehr auf der Strasse sprayen. Erst nach mehrmaligem Bitten empfing er die Regisseurin zum Interview. «Mein Kopf ist noch hell», verriet er schliesslich: «Aber die Zeit ist abgelaufen ... Wenn ich zu viele Schmerzen habe, mache ich Schluss. Ich will entscheiden, nicht andere!»
Ewiger Rebell mit starkem Tatendrang
Naegeli nimmt die Dinge gerne selbst in die Hand. Das war schon immer so. Die 68er-Bewegung lieferte dem Kapitalismus-Kritiker das passende Credo: «Wer begriffen hat und nicht handelt, hat nicht begriffen.»
Nach den Opernhauskrawallen sprühte Naegeli zunächst politische Gleichungen auf Betonwände: «68 + 80 = Revolution.» Wenig später entdeckte er die Sprengkraft graphischer Darstellungen für sich, die ihn als Graffitikünstler weltbekannt machten.
Auch Kunstikone Joseph Beuys setzte sich für den in Schweizer Medien als «Vorläufer der Schmierereien» verunglimpften Sprayer ein. Weil er dessen Interesse an «menschlichen Fragen» sehr schätzte: «Was er macht, ist eine anthropologische, soziale Kunst.»
Vermeintlicher Nestbeschmutzer
In Zürich sahen das viele anders. Als Naegeli emigrierte, wurde er gar mit einem internationalen Haftbefehl gesucht. Die sechsmonatige Gefängnisstrafe trat der Verurteilte 1984 freiwillig an. Auch wenn er den Tatbestand der Sachbeschädigung bis heute bezweifelt.
Verstossen habe er bloss gegen die ungeschriebenen Gesetze der Technokratie, die da lauten: «Bereicherung des öffentlichen Raumes, Kritik am Kapitalismus, Denken mit Bildern ist verboten.»
Wenn Naegeli diese Regeln bricht, schäme sich der Bürger in ihm, wie er freimütig zugibt: «Aber der Künstler jubelt und freut sich. Viel mehr ist gar nicht zu sagen über das Sprayen.»
Rückkehr des Totentänzers
Über Harald Naegeli ist damit aber längst noch nicht alles gesagt. Zumal der Rebell neuerdings wieder in seiner Heimatstadt wirkt. Seit Beginn der Corona-Pandemie prangt auf Zürich Wänden das jüngste Werk des betagten Graffiti-Künstlers: ein neuer Totentanz.
Die Reaktionen darauf waren – wie immer bei Naegeli – höchst gemischt. Während der Stiftungsrat des Kunsthauses «ihren» Totentänzer sofort entfernen liess, ehrte die Stadt Zürich den verloren geglaubten Sohn im September 2020 mit dem Kunstpreis.
Auch wenn die tanzenden Skelette bis heute manchem Bürger gegen den Strich gehen; so stimmt es doch, was Sophie Hunger in ihrer «Ballade vom Sprayer» festhält. Die Sängerin findet in ihrem Mundart-Schlusslied treffende Worte für den unbestrittenen Wert von Naegelis Schaffen: «S isch wie en Naht. En Riissverschluss. En Notusgang. En Wäg ad Luft.»
Kinostart: 4. November 2021