Wie alt seine Schwester denn sei, wird Calum im Hotel von einem Teenager gefragt. Die 11-jährige Sophie könnte tatsächlich die Schwester des 30-Jährigen sein. Aber Sophie ist Calums Tochter. Mit ihr verbringt der junge Schotte Ende der 90er-Jahre die Sommerferien in der Türkei.
Urlaub mit den Eltern ist eine zwiespältige Angelegenheit. Die paradiesische Umgebung weckt Erwartungen, die oft nur enttäuscht werden können. Calum und Sophie freuen sich sichtlich, die Ferien miteinander zu verbringen. Denn Sophie ist ein Scheidungskind und lebt bei ihrer Mutter in Edinburgh – ihren Vater scheint sie nicht allzu oft zu sehen.
Spass trotz Animateuren
Das unkonventionelle Duo passt nicht so recht in die schnöde Pauschalreisekulisse mit Carfahrten, Sommerhits und Animationsprogramm. Im Strandhotel ist alles auf Kinder oder Senioren ausgerichtet. Für das, was wirklichen Spass verspricht, sind Sophie und Calum immer entweder zu jung oder zu alt.
So treffen sich die beiden in der Mitte: Der Vater legt viel kindliche Unbekümmertheit an den Tag, die Tochter zuweilen eine recht erwachsene Selbstständigkeit. Mit Scherzen und Streichen machen sie sich die Ferienkolonie zu eigen.
Ein brüchiges Glück
Sophie dokumentiert den Urlaub mit einem brandneuen 90er-Jahre-Camcorder. Immer wieder zeigt der Film diese Aufnahmen, die die Brüchigkeit des Ferienglücks sichtbar machen. Sophie und Calum sind bemüht, den Urlaub perfekt zu machen und bleibende Erinnerungen zu schaffen. Es gelingt ihnen nicht immer.
Manchmal genügt eine falsche Frage, um die Grenzen dieses Glücks aufzuzeigen. Tochter und Vater tragen beide eine Traurigkeit in sich, über die sie nicht sprechen können, und die auch Sonne und Strand nicht zu vertreiben vermögen.
Seelische Untiefen am Poolrand
Calum scheint unter einer schweren Depression zu leiden. Zusätzlich belasten die klassischen Ursachen für Urlaubsknatsch die Ferienharmonie: falsch gebuchte Zimmer, eine Baustelle am Hotelpool, verliebte Teenager und nervende Eltern.
Zum grossen Knall kommt es aber nie. Dafür ist die Beziehung der beiden zu zart und zu liebevoll. Regisseurin und Drehbuchautorin Charlotte Wells lässt in ihrem Spielfilmdebüt viel Platz für Feinheiten.
Zwischen der Helligkeit des türkischen Sommers und der Dunkelheit eines nächtlichen Hotelzimmers zeigt der Film die stille Ziellosigkeit des Urlaubsalltags. Dabei lässt er Raum für vielsagende Leerstellen.
Nostalgisch wie ein Urlaubsvideo
Kein Wunder, dass dieser subtile und bewegende Film bei Filmpreisen und Filmfestivals abräumt und bereits zum Liebling der Kritiker avanciert ist. Auch Paul Mescal und Frankie Corio in den Hauptrollen sind eine Wucht. Mescal wurde zu Recht für einen Oscar als bester Hauptdarsteller nominiert.
«Aftersun» lässt das Publikum zurück wie ein altes Urlaubsvideo. Man weiss, dass die Ferien in Wirklichkeit nie so schön waren, wie es uns die Erinnerung weismacht. Trotzdem legt man die Videokassette aus vergangenen Zeiten immer wieder gerne ein. Selbst dann, wenn sie einen traurig macht.
Kinostart «Aftersun»: 23.2.2023