Das Drama beginnt mit klassischer Musik und einem Massenmord im Altersheim. Eine Gräueltat, die der junge Täter so begründet: «Der Überschuss an Senioren ist eine schwere Belastung für die Wirtschaft und die jüngere Generation. Ich bete, dass meine Tat der Auslöser sein wird für eine breite Debatte und dass sie unserem Land eine helle Zukunft beschert.»
Schreckliche letzte Worte eines Verirrten vor der Selbstexekution. Doch so haarsträubend die Argumentation des Killers in Chie Hayakawas Horrorszenario ist: Sie hallt beunruhigend lange nach. Und führt im Film dazu, dass das japanische Parlament – quasi als Antwort auf den wachsenden Unmut der Jungen – ein fragwürdiges Gesetz verabschiedet.
Dieses räumt allen Menschen ab 75 – egal ob krank oder kerngesund – das Recht ein, «zum Wohle der Nation» Sterbehilfe in Anspruch zu nehmen. Wer das tut, kommt vor dem Suizid in den Genuss von Privilegien. Sprich: Der völlig auf seine Finanzen fixierte Staat motiviert den älteren Teil der Bevölkerung in dieser Dystopie zu einem verfrühten Abgang.
650 Franken pro Freitod
Filmheldin Michiko spielt als Seniorin ohne Nachkommen und dickes Portemonnaie mit dem Gedanken, die «Premium-Variante» von Plan 75 anzunehmen. Diese garniert die «Pro-Kopf-Prämie» von 100'000 Yen, was rund 650 Franken entspricht, mit anderen geschmackslosen Zückerchen.
«Sie haben alles», argumentiert Michikos Kollegin begeistert: «Heisse Quellen, Schwimmbäder, sogar Massagen. Plus ein Fotostudio. Sie schminken dich schön und machen ein hübsches Abschiedsfoto von dir.» Szenen wie diese, mit denen die Regisseurin unaufgeregt künftige Alltagsgespräche schildert, machen «Plan 75» so verstörend.
Von realem Verbrechen inspiriert
Zu ihrer Schreckensvision inspiriert wurde die gesellschaftskritische Filmerin durch einen realen Massenmord. Beim Massaker von Sagamihara tötete ein ehemaliger Pfleger in einem Heim am 26. Juli 2016 unweit von Tokio 19 Menschen. Weil diese nach seiner Einschätzung nur noch «dahinvegetierten» und er die Gesellschaft von «unwertem Leben» befreien wollte.
Daran anknüpfend lässt Hayakawa ihren Killer zu Beginn sagen, was er von all jenen erwartet, die nichts mehr zum Bruttosozialprodukt beitragen: «Es ist eine lange Tradition der Japaner, sich mit Stolz aufzuopfern für das Wohl ihrer Nation.»
Dass es heute noch Menschen gibt, die ähnlich argumentieren, beunruhigt die Regisseurin. So liess sich kein Geringerer als Finanzminister Taro Aso 2013 zu einem skandalösen Appell hinreissen. «Beeilt euch und sterbt endlich!», legte er den Alten mit Blick auf Staatshaushalt nahe.
Nicht auf Japan beschränkt
«Die spinnen, die Japaner!», dürften nun all jene denken, die das Land der aufgehenden Sonne schon immer mit realen oder mythischen Opferungspraktiken verbunden haben. Mit Samurais, die sich den eigenen Bauch aufschlitzen, um Schande abzuwenden (bekannt als Seppuku bzw. Harakiri). Oder mit patriotischen Piloten, die im Zweiten Weltkrieg ihre Flugzeuge zu Sprengkörpern umfunktionierten (Kamikaze).
Tatsächlich versucht die rechtskonservative Regierung, die seit 2012 an der Macht ist, das japanische Volk immer wieder an diese «Traditionen» zu erinnern. Dennoch wäre es falsch, «Plan 75» als lokales Horrorszenario misszuverstehen. Das global mit Freiheitsfloskeln verkaufte Primat des Geldes ist überall zum Fürchten.
Kinostart: 4.5.2023