Oregon, 1851: Der Wilde Westen ist mehr oder weniger besiedelt. Nach der Eroberung des Landes durch kantige Kerle folgt die Kultivierung.
Der technische Fortschritt scheint sogar die härtesten Jungs zu zähmen: Wasserklosets machen aus ungehobelten Mannsbildern Sitzpinkler und Zahnbürsten sorgen für frischen Cowboy-Atem.
Auch Auftragskiller wie die titelgebenden Sisters Brothers bleiben von diesem Wandel nicht unberührt. Vor allem Eli, der ältere der beiden Brüder, beginnt an seiner Profession zu zweifeln.
Das brüderlichste Zitat
Eli (John C. Reilly) verfolgt den technischen und moralischen Fortschritt der Gesellschaft mit Neugier. Als aufgeschlossener Bürger versucht er seinem kleinen Bruder Charlie das Töten auszutreiben:
«Wir hatten einen guten Lauf. Aber jetzt müssen wir damit aufhören. Lass uns zusammen einen Laden eröffnen!»
Choleriker Charlie (Joaquin Phoenix) hat für diesen vernünftigen Vorschlag nur Hohn und Spott übrig: «Einen Laden? Das ist Nonsens!»
Der Regisseur
Jacques Audiard erblickte am 30. April 1952 in Paris das Licht der Welt. Als Sohn von Regisseur Michel Audiard wurde ihm das Filmemachen in die Wiege gelegt. Nach frühen Erfolgen als Drehbuchautor gelang ihm schliesslich 2005 der internationale Durchbruch als Regisseur.
«De battre mon coeur s’est arrêté» gewann neben einem Silbernen Bären gleich acht Césars. Mit der Goldenen Palme ausgezeichnet wurde Audiard erst im vierten Anlauf: 2015 für «Dheepan».
Auch in Venedig räumte der Cannes-Stammgast schon eine Trophäe ab: 2018 den Silbernen Löwen als «Best Director». Für einen Western, der sich klug von den Grenzen seines Genres emanzipiert: «The Sisters Brothers» lässt Männer über den Zwang zur Gewalt sinnieren.
Fakten, die man wissen sollte
«The Sisters Brothers» basiert auf einem Roman des Kanadiers Patrick de Witt. Schauspieler John C. Reilly sicherte sich schon früh die Rechte am raffiniert vieldeutigen Stoff. 2012 konfrontierte er Jacques Audiard im Rahmen des Filmfestivals von Toronto mit dem Buch.
Es funkte sofort. Obwohl Audiard zuvor nicht im Traum daran gedacht hätte, jemals einen Western zu realisieren. Entsprechend ungewöhnlich kommt seine Genre-Etüde daher: als eine Art Psychoanalyse auf Pferderücken. Am Ende ihrer gemeinsamen «Sitzungen» gelingt den Brüdern Unerhörtes: Das Verdrängte an- und auszusprechen.
Gedreht wurde die internationale Koproduktion hauptsächlich in Rumänien und Spanien. In Landschaften, die bislang kaum in Western zu sehen waren. Amerikanisch sind nur die zwei Hauptdarsteller, sowie Jake Gyllenhaal, der eine wichtige Nebenrolle spielt.
Das Urteil
Ein Western, in dem Männer über ihre geheimen Wünsche und Gefühle reden. Das ist tatsächlich mal was anderes. Klar gibt es auch Schiessereien. Doch zu Revolverhelden stilisiert Regisseur Jacques Audiard seine Protagonisten nicht.
Statt den Wilden Westen zu romantisieren, wirft «The Sisters Brothers» aktuelle Fragen auf: Wie entkommt man der Gewaltspirale? Gibt es Alternativen zur toxischen Männlichkeit, zur Gier, zum Kapitalismus?
Die aufrichtige Selbstbefragung folgt der Tradition kritischer Genre-Meisterwerke wie John Fords «Cheyenne Autumn». Völlig eigenständig ist dagegen die Tonalität, die Audiard für seine Mythen-Dekonstruktion gewählt hat: Utopische Ideale treffen hier auf Galgenhumor, was den geschwätzig-leisen Western angenehm unterhaltsam macht.
Kinostart: 21.3.2019